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Sprachübungen in einem Alphabetisierungskurs an einer Volkshochschule.

© Maja Hitij/picture alliance/dpa

Update

Millionen Menschen können kaum schreiben: Im Alltag ausgegrenzt

6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Die Zahlen sind alarmierend – aber vor neun Jahren waren sie deutlich höher.

Sie können einzelne Wörter oder Sätze nicht ohne grobe Fehler zu Papier zu bringen und selbst kurze Texte kaum zu verstehen: 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben – 12,1 Prozent der Bevölkerung. Der Studie „LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität“ zufolge, die am Montag in Berlin vorgestellt wurde, gibt es jedoch einen positiven Trend. Bei der Vorgängerstudie von 2010 hatten 7,5 Millionen Menschen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, die Quote lag damit bei 14,5 Prozent der 18- bis 64-Jährigen.

„Die Zahlen haben sich verbessert, und zwar deutlich“, sagte Christian Luft, Staatssekretär im Bundesbildungsministerium (BMBF), das die Studie finanziert hat. Gleichwohl sei jeder Mensch, der nicht richtig lesen und schreiben kann, „ein Mensch zu viel“.

"Mit Ausgrenzungen und großen Unsicherheiten verbunden"

Studienleiterin Anke Grotlüschen, Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg, erklärte: „Die neue Leo-Studie zeigt, dass das Leben mit geringer Literalität mit Ausgrenzungen und großen Unsicherheiten im Alltag verbunden ist.“ Für LEO (Level-One-Studie) wurden im Sommer 2018 bundesweit rund 7200 deutschsprechende Erwachsene getestet und befragt.

Verbessert hat sich die Lage auch bei den Menschen, die zwar zusammenhängende Texte verstehen, aber nicht gut lesen und sehr fehlerhaft schreiben. Hier ging die Zahl von 13,4 auf 10,6 Millionen Erwachsene zurück. Mit nach wie vor 0,6 Prozent gleichbleibend ist der Anteil derer, die allenfalls einzelne Buchstaben kennen.

Den insgesamt „beachtlichen Fortschritt“ führen das BMBF und die Kultusministerkonferenz (KMK) auf die neuen Lernangebote zurück, für die vielfach auch Arbeitgeber gewonnen worden seien. Zudem gelinge es, den Analphabetismus zu enttabuisieren – und es Betroffenen dadurch zu ermöglichen, aktiv zu werden. Die 2016 von BMBF und KMK ausgerufene „Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung“, in der bis 2026 mit insgesamt 180 Millionen Euro Angebote für gering Gebildete gefördert werden, sei offensichtlich erfolgreich.

Kampagnen tragen zur Enttabuisierung bei

Zur Enttabuisierung trägt die Kampagne mit TV-Spots bei, in denen Menschen offen über ihre Einschränkung sprechen und sinnbildlich ins kalte Wasser springen, um das Versäumte nachzuholen. Zu den Angeboten gehört das Volkshochschul-Portal „ich-will-lernen.de“. Hinzu kommen Grund-Bildungs-Zentren, Programme in Mehrgenerationen-Häusern und das bundesweit tourende Alfa-Mobil, in dem Betroffene beraten werden.

„Durch unsere verstärkte Öffentlichkeitsarbeit hat sich auch das Verständnis für die Betroffenen erhöht, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben“, erklärte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU).

Doch waren es wirklich die Kampagnen und die Weiterbildungsbildungsangebote, die zur Senkung der Quote von 14,5 auf zwölf Prozent geführt haben? Nicht ausschließlich, sagt Heike Solga, Bildungsforscherin und Soziologin am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB). Nur 0,7 Prozent der Befragten mit eingeschränkten Kompetenzen hätten Alphabetisierungskurse oder Angebote der Elementarbildung absolviert, wie sie in Volkshochschulen angeboten werden.

Gleichzeitig geben 28 Prozent der Betroffenen an, an sprachfördernden Maßnahmen des Bundesamts für Migration und an anderen Weiterbildungskursen teilgenommen zu haben.

Zwar stieg der Anteil von Menschen mit nicht-deutscher Herkunftssprache um 4,5 Prozentpunkte. Positiv ausgewirkt hätten sich aber vor allem die seit 2010 um zehn Prozent höhere Erwerbsquote und die um sechs Prozent höheren Schulabschlüsse in der Gesamtbevölkerung. „LEO zeigt uns, dass die Bevölkerung seit 2010 älter und bunter, aber auch gebildeter und erwerbstätiger geworden ist. Und das spiegelt sich im gesunkenen Anteil gering Literalisierter wider“, sagt Solga, die im wissenschaftlichen Beirat der LEO-Studie sitzt.

Mehr Betroffene ohne Deutsch als erste Sprache

Wer nun sind die Betroffenen? Mehrheitlich handelt es sich um Erwerbstätige, die in einer Familie leben, meist jedoch zu den Geringverdienenden gehören. Männer haben mit 58,4 Prozent häufiger Probleme beim Lesen und Schreiben als Frauen, den größten Teil machen zudem Erwachsene über 45 Jahren aus. 22,3 Prozent der Erwachsenen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen haben keinen Schulabschluss. 47,4 Prozent lernten in ihrer Kindheit zuerst eine andere Sprache als Deutsch. Von ihnen können 42,6 Prozent nicht richtig lesen und schreiben. Bei Erwachsenen mit Deutsch als Herkunftssprache sind es dagegen 7,3 Prozent.

Zugewanderte ohne ausreichende mündliche Deutschkenntnisse wurden nicht getestet. Karliczek kündigte an, die Angebote für in Deutschland lebende Migranten würden weiterentwickelt.

In der Studie wurde auch gefragt, wie die Menschen im Alltag zurechtkommen – in finanziellen Fragen, im Gesundheitssystem oder in der digitalen Welt. Hier zeigt sich, wie eingeschränkt die gesellschaftliche Teilhabe Betroffener ist: So traue sich nur jeder Zweite zu, den Telefon- oder Stromanbieter zu wechseln. Ebenso viele sind finanziell nicht in der Lage, eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung zu machen. Und nur 58,6 Prozent können ohne Unterstützung Formulare bei ihrer Ärztin oder im Krankenhaus ausfüllen – in der Gesamtbevölkerung sind es 85 Prozent. Nur 7,3 Prozent der Betroffenen sind mit online oder per App gebuchten Fahrscheinen unterwegs (insgesamt: 17 Prozent).

Am gravierendsten sei die „Verletzbarkeit im alltäglichen Leben“ aber „bei den kritisch hinterfragenden Kompetenzen“, sagt Studienleiterin Grotlüschen. So sagen noch 23,6 Prozent, dass die Zeitung lesen (insgesamt: 42 Prozent), aber nur 34,6 Prozent führen Gespräche mit anderen über das politische Geschehen (insgesamt: 55,4 Prozent).

Neuer Begriff, um nicht zu stigmatisieren

Grotlüschen will das Tabu, nicht oder kaum lesen und schreiben zu können, weiter aufbrechen. Deshalb solle nicht länger von funktionalem Analphabetismus gesprochen werden, appelliert sie. Dieser Begriff sei „stigmatisierend“. In der Studie wird stattdessen der in der Forschung seit längerem gängige Begriff geringe Literalität benutzt. Das entspreche der starken Rolle der Schriftsprache in unserer Gesellschaft – und sei besser anschlussfähig in der internationalen Diskussion. Im Englischen ist die Rede von low literacy.

Insbesondere sei es häufig falsch, bei Menschen mit Lese- und Schreibproblemen und mit Migrationshintergrund von funktionalen Analphabeten zu sprechen, sagt Grotlüschen. Denn 78 Prozent der gering Literalisierten, die in der Kindheit eine andere Sprache gesprochen haben, geben an, in dieser Sprache „anspruchsvolle Texte zu lesen und zu schreiben“.

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