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Die „Polarstern“ fuhr durch eine enge Passage zwischen Schelfeis und Eisberg, hier schauten die Forschenden auf den Meeresboden.

© AWI / Ralf Timmermann

Tagesspiegel Plus

Leben am Gefrierpunkt : Was Polarforscher tief unter dem Eis entdeckt haben

Ein deutsches Forschungsteam wagte einen Blick unter den vor drei Wochen abgebrochenen Eisriesen in der Antarktis. Mit überraschendem Ergebnis.

Als die Forschenden des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) einen ersten Blick auf den Meeresboden warfen, trauten sie ihren Augen kaum. Dort wo seit vielen Jahre kein Sonnenlicht hingelangt war, tief unter dem 150 Meter dicken Eis des Brunt-Schelfes in der Antarktis, gab es im eiskalten Wasser mehr zu sehen als sie erwartet hatten.

Erstmals ist es Wissenschaftler:innen nun gelungen, Leben auf Meeresboden zu untersuchen, der lange Zeit von massivem Eis bedeckt war. Und dafür war dem AWI-Team der Zufall zu Hilfe gekommen.

Eigentlich waren sie mit dem deutschen Forschungseisbrecher „Polarstern“ im südöstlichen Weddellmeer unterwegs, um Klimadaten zu sammeln, als vor knapp drei Wochen gerade mal 100 Kilometer von ihrem Schiff entfernt ein riesiger Eisberg vom Schelf abbrach.

Das Forschungsteam nutzte die Gunst der Stunde und machten sich Mitte März nach Abzug blockierender Stürme auf den Weg zur Abbruchstelle, um den Spalt zwischen dem Schelfeis und dem Eisriesen zu durchfahren.

Bei der Umfahrung der 1270 Quadratkilometern großen Eisfläche – etwa doppelt so groß wie Berlin – konnten die Forschenden dann einzigartige Aufnahmen vom Meeresboden machen, der seit Jahrzehnten von 150 Meter dickem Eis überzogen war. Dabei fanden sie einen unerwartet großen Artenreichtum vor. Die Forschenden sprechen von einer „erstaunliche Vielfalt an Leben“.

Womöglich wurden auch unbekannte Arten entdeckt

Die „Polarstern“ ist derzeit das einzige Forschungsschiff vor Ort. Sie war eigentlich dort, um Langzeitdaten für Klimavorhersagen zu ermitteln. Nur sehr selten gelingt es, in einem Gebiet forschen zu können, das gerade erst eisfrei wurde. Das Tiefsee-Forschungsteam des AWI fand unter dem Ozean zahlreiche Tiere, die in einer Schlammlandschaft auf Steinen leben. Bislang ist noch unklar, ob darunter auch unbekannte Arten sind.

Diese charismatischen Freaks der Tiefsee werden als „Seeschwein“ bezeichnet.
Diese charismatischen Freaks der Tiefsee werden als „Seeschwein“ bezeichnet.

© AWI / OFOBS team PS124

Die meisten der Organismen sind Filtrierer. „Ob sie sich weitgehend von Algenresten ernähren oder von organischen Partikeln, die mit dem Eis transportiert werden, bleibt zu klären“, heißt es von den Forschenden.

Gefunden wurden am Meeresboden auch einige mobile Arten wie Seegurken, Seesterne, verschiedene Weichtiere sowie mindestens fünf Fisch- und zwei Tintenfischarten. Insgesamt ein „überraschend artenreiches Ökosystem“, wie die Wissenschaftlerinnen feststellen. Ihnen war es erstmals überhaupt gelungen, Fotos und Filmaufnahmen von einem sonst verborgenen Lebensbereich zu machen.

Die Kameraplattform wird an einem langen Draht vom Schiff geschleppt. Daher war der Eisabbruch für das Team eine einmalige Chance, um den bisher unzugänglichen Meeresboden zu erkunden.  

Viele der vorgefundene Organismen leben auf Steinen, wie diese weiche Koralle.
Viele der vorgefundene Organismen leben auf Steinen, wie diese weiche Koralle.

© OFOBS team PS124 / AWI

Sedimentproben sollen nun genaueren Aufschluss über das dortige Ökosystem bringen. Von der geochemischen Analyse der gewonnenen Wasserproben erhoffen sich die Forschenden Rückschlüsse auf Nährstoffgehalt und Wasserströmungen.

Ein Glücksfall, dass wir flexibel reagieren und das Abbruchgeschehen am Brunt-Schelfeis aktuell so detailliert erforschen konnten

Hartmut Hellmer, Leiter der AWI-Expedition

„Es ist ein Glücksfall, dass wir flexibel reagieren und das Abbruchgeschehen am Brunt-Schelfeis aktuell so detailliert erforschen konnten“, sagte der Leiter der Expedition, der AWI-Ozeanograf Hartmut Hellmer.

„Noch glücklicher bin ich jedoch, dass wir eine große Anzahl von Verankerungen erfolgreich ausgetauscht haben, die auch in unserer Abwesenheit elementare Daten von Temperatur, Salzgehalt, Strömungsrichtung und -geschwindigkeit aufzeichnen“, erklärte Hellmer.

Die Aufzeichnungen bilden die Grundlage für Modellrechnungen dazu, wie die Eisschilde der Antarktis auf den Klimawandel reagieren werden. „So können wir mit größerer Sicherheit prognostizieren, wie schnell der Meeresspiegel zukünftig ansteigen wird – und Politik und Gesellschaft verlässliche Daten liefern, um notwendige Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel zu treffen“, sagte der Ozeanograf Hartmut Hellmer.

Die Auswirkungen des Klimawandels unter anderem in der Antarktis sind besorgniserregend

Anja Karliczek, Bundesforschungsministerin (CDU)

Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) begrüßte die Aktivitäten der Forschenden. „Wir brauchen dieses Wissen, um beim Klimawandel wirksam gegensteuern zu können – die Auswirkungen des Klimawandels unter anderem in der Antarktis sind besorgniserregend“, sagte sie.

Am antarktischen Eisschild biete sich den Forschenden eine einmalige Gelegenheit. „Die Polarforschung trägt entscheidend mit dazu bei, den Klimawandel und seine Folgen für unsere Erde besser zu verstehen und vorauszusehen“, sagte Karliczek. Die Antarktis-Mission, der „Polarstern“ wird über die institutionelle Förderung des AWI durch das Bundesforschungsministerium ermöglicht.

Das Schelfeis könnte schon bald stärker abschmelzen

Die AWI-Forscher waren mit dem Schiff in den vergangenen zwei Monate in der Antarktis unterwegs, um Langzeitdaten für Klimavorhersagen ermitteln. Am Kontinentalhang nördlich des Filchner-Ronne-Schelfeises, dem Ziel der Expedition, nimmt die Wassertiefe von wenigen hundert Metern rasch auf über 3000 Meter zu.

Hier treffen große Mengen kalten Eisschelfwassers und salzhaltiges Schelfwasser auf relativ warmes Tiefenwasser aus dem Norden und vermischen sich.

Die „Polarstern“ vor der Abbruchkante  des Eisgiganten A74.
Die „Polarstern“ vor der Abbruchkante  des Eisgiganten A74.

© AWI / Tim Kalvelage

Tiefenwasserbildung ist ein wesentlicher Bestandteil der globalen Ozeanzirkulation – sie kann nach Erkenntnissen der AWI-Forschenden aber auch von unten das Schelfeis – also die Ausläufer der Gletscher, die auf dem Meer schwimmen – schmelzen.

So könnte das Schelfeis schon bald stärker abschmelzen. Aktuelle Daten würden zeigen, dass sich warmes Tiefenwasser immer intensiver und weiter Richtung Schelfeis ausbreitet. „Eine dauerhafte Erwärmung würde die Ozeanzirkulation unter dem gesamten Filchner-Ronne- Schelfeis beeinflussen“, warnt der Ozeanograf Hellmer.

„Unsere Modellrechnungen zeigen, dass das Schelfeis etwa in der Mitte unseres Jahrhunderts von unten stärker abschmelzen und sich damit der Eintrag von Inlandeis beschleunigen könnte“, so der Polarforscher.

In der Rinne zwischen Schelf und abgebrochenem Eis ist stellenweise wenig Platz.
In der Rinne zwischen Schelf und abgebrochenem Eis ist stellenweise wenig Platz.

© AWI / Tim Kalvelage

Der zusätzliche Süßwassereintrag hätte einen Anstieg des Meeresspiegels und eine Veränderung der Ozeanzirkulation und der Meereisbildung zur Folge: „Mit Konsequenzen für die gesamte Biologie der oberen Wassersäule“.

Bislang wurde vor allem die Westantarktis vom Klimawandel erwärmt. Auf die Ostantarktis wo die „Polarstern“ aktuell forscht, hat sich der globale Temperaturanstieg noch nicht ausgewirkt.

Klimamodelle würden jedoch prognostizieren, dass auch im östlichen antarktischen Weddellmeer die Lufttemperatur im Laufe dieses Jahrhunderts ansteigen wird. „Mit negativen Auswirkungen für das Meereis“, wie die Polarforscher befürchten.

Die Wissenschaftler:innen erwarten, dass solche Veränderungen grundlegende Veränderungen der Hydrographie mit sich bringen. Bisher verhindere eine stabile Front, dass relativ warmes Wasser Richtung Schelfeis gelangt.

„Wenn dünneres und weniger Meereis weniger Salz in die Wassersäule entlässt, könnte diese Front instabil werden und das wärmere Wasser ließe das Schelfeis von unten schmelzen“, erklärt Hellmer.

Auch könnte eine wärmere Atmosphäre die Eisberge schneller kalben lassen, wie das Ablösen von großen Eismassen auch genannt wird. Die Polarforschenden des AWI können gegenwärtig beobachten, dass die Antarktis schneller an Eismasse verliere als noch vor dem Jahr 2000.

Um Modellrechnungen dazu anstellen zu können, brauchen die Forschenden langfristige Daten aus den betroffenen Regionen. Dafür führt das Alfred-Wegener-Institut bereits seit den 1980er Jahren mit der „Polarstern“ Expeditionen ins antarktische Weddellmeer durch.

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