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Die Bertelsmannstiftung prognostiziert für 2023 einen Mangel an 17.000 Kitaplätzen in Berlin.

© Kitty Kleist-Heinrich

„Nicht sehen, was man nicht sehen will“: Industrie- und Handelskammer Vize Stefan Spieker im Interview über Berlins Kitaplatzmangel

Warum es nicht reicht, Kita-Gutscheine zu zählen: Stefan Spieker über die Versäumnisse des Senats und die Kinder, die auf der Strecke bleiben.

Herr Spieker, war 2022 ein gutes Jahr für Berlins Kleinkinder?
Das hängt leider davon ab, in welchen Bezirken sie leben und welchen sozioökonomischen Status ihre Eltern haben. In Spandau, Reinickendorf und Neukölln nimmt der Mangel an Kitaplätzen weiter zu. Das hat fatale Folgen für den späteren Bildungserfolg. Belegt ist: In Berlin beeinflusst auch die Herkunft der Eltern die Chance auf einen Kitaplatz. Zudem hat Corona vielfältige Einflüsse auf Kinder gehabt, die immer noch deutlich spürbar sind: Unsere Fachkräfte berichten, dass deutlich mehr Kinder unter Ängsten leiden oder ein herausforderndes Verhalten zeigen, dass sie reizbarer sind und dass die Herausforderungen insbesondere bei sprachlichen Bildungsrückständen sehr groß sind. Das lastet sehr auf den Erzieherinnen und Erziehern.

Im April haben Sie mit dem Trägerzusammenschluss „Kita-Stimme.Berlin“ einen Brandbrief geschrieben. Es ging um die rund 2000 Kinder, die keine Frühförderung besuchen, obwohl sie dazu gesetzlich verpflichtet wären. Was ist daraus geworden?
Die Reaktionen auf unsere Aktion waren erfreulich zahlreich: Mehrere Bezirke und auch die Senatsverwaltung für Jugend haben uns zu Gesprächen eingeladen. Wir haben dabei gelernt, dass fast alle Bezirke mit diesem Problem unterschiedlich umgehen und es kein einheitliches Verfahren gibt. In der Folge erhalten diese Familien keine gesicherten Plätze, sondern müssen eigenständig einen Gutschein beantragen.

Genau dies sollte doch aber seit Sommer 2022 anders werden. Das Gesetz wurde geändert, Schulämter müssen nun selbst Kitaplätze ausfindig machen. Greift das noch nicht?
Das Problem ist aus unserer Sicht, dass auch die Schulämter keine Kitaplätze ausfindig machen können, wo keine sind. Und sie haben auch keine regelmäßigen Kontakte zu den Kitas oder zu Kitaträgern.

Dann tritt die Verwaltung trotz des Brandbriefs auf der Stelle?
Unser Angebot, trotz Platzknappheit, Fachkräftemangels und trotz zusätzlicher geflüchteter Kinder aus der Ukraine gerne schnell und unbürokratisch zu helfen, verhallte leider. Ich glaube, die meisten, mit denen wir gesprochen haben, wussten gar nicht, was wir ihnen da auf dem Silbertablett angeboten hatten. Vor allem die Senatsverwaltung hat sehr schnell deutlich gemacht, dass unsere Idee der temporären Überbelegung von etwa zwei Prozent der eigentlichen Platzkapazitäten nicht mitgetragen wird.

... weil der Personalschlüssel schon jetzt vielerorts problematisch ist. Ist das nicht verständlich?
Wesentlicher Bestandteil unseres Angebots war, dass das Personal entsprechend der zusätzlichen Kinderzahl aufgestockt wird. Aber auch das konnte die Verwaltung nicht überzeugen. Somit wird der Kitaplatzmangel noch lange bestehen bleiben.

Sehen Sie einen Weg, wie man die Quote der erreichten Kinder erhöhen könnten?
Zunächst muss man sich einmal ehrlich machen: Reicht es wirklich aus, die Anzahl der beantragten Kitagutscheine mit dem Bedarf gleichzusetzen? Oder muss man in einer kosmopolitischen Stadt wie Berlin nicht doch davon ausgehen, dass nicht jede Familie mit einem Betreuungsbedarf den Weg durch den Behörden-Dschungel schafft oder ihn überhaupt antritt? Diese Eltern könnten wir auch als Träger ausfindig machen und unterstützen – zum Beispiel durch Kita-Sozialarbeit. Aber was nützt das, wenn wir keine Plätze anbieten können? Die Kitaausbauplanung des Senats muss sich dringend am realen Bedarf aller Eltern orientieren, der separat erhoben werden müsste. Momentan lautet das Motto: Nicht sehen, was man nicht sehen will.

Wo lauern noch Gefahren für den Kitaausbau?
Uns besorgt, dass Mietobjekte keine ewigen Laufzeiten haben. Wir verlieren 2023 leider eine Kita und werden in den nächsten Jahren um einige Standorte kämpfen müssen. Auch erhalten wir seit einigen Jahren keine Fördermittel mehr für Kitaneubauten. Das geht vielen Trägern so, da neue Kitas angeblich teurer sind als Aus- oder Umbauten. Und die Fördermittel wurden über Jahre nicht angepasst: Aktuell liegt die Förderung bei 30.000 Euro pro Platz, die Kosten werden aber 2023/24 auf mindestens 60.000 Euro steigen. Die Kostenentwicklung ist aktuell einfach sehr krass.

Bei den Modul-Kitas, die der Berliner Senat selbst plante, kostete ein Platz schon vor drei Jahren über 50.000 Euro.

© Paul Zinken/dpa

Gibt es eine Aussicht, wie Berlin die 17.000 fehlenden Kitaplätze schaffen kann, die laut Bertelsmannstiftung für 2023 noch fehlen?
Das würde mehr als eine halbe Milliarde Euro kosten – Geld, dass aktuell nicht in Sicht ist. Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Damit die Plätze angeboten werden können, werden auch mehr Fachkräfte benötigt. Leider zieht sich die öffentliche Hand in Berlin immer mehr aus der Erzieher- und Erzieherinnenausbildung zurück.

Rechnen Sie mit mehr Kitaklagen? Oder fallen einfach die Geflüchteten durchs Raster, weil sie sich nicht wehren und Plätze nicht einklagen können?
Meine These ist, dass viele Familien schon bei der Beantragung eines Kitagutscheins scheitern oder spätestens beim Verteilkampf um knappe Kitaplätze aufgeben – auch, weil sie sich bei uns noch nicht so gut auskennen. Dass ausgerechnet diese Eltern klagen, halte ich für unwahrscheinlich.

Die Senatsverwaltung für Jugend hat sich viel vorgenommen bei der Qualitätsentwicklung. Kritiker warnen vor einer „Verschulung“ der Kitas. Sehen Sie diese Gefahr?
Natürlich funktioniert Bildung in der Kita völlig anders als in der Schule – es ist unser größtes Plus, dass wir Kinder individuell und selbstbestimmt fördern können. Dennoch ist es wichtig, dass beide Welten gut zusammenarbeiten können und sich vorurteilsfrei begegnen. Es darf nicht darum gehen, wer das höherwertige Bildungsverständnis hat – entscheidend ist, wie wir das Beste für unsere Kinder herausholen. Dafür müssen wir unsere Expertise bündeln, statt nach Institutionen zu trennen.

Manche Eltern wären schon froh, wenn die Erzieherinnen richtig Deutsch sprächen.
Unsere Kitas in Berlin werden immer diverser und unsere Fachkräfte haben mit immer mehr Familiensprachen zu tun. Teammitglieder, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, sind da oftmals eine Entlastung und bereichern den Kita-Alltag durch zusätzliche Perspektiven. Wenn die Deutsch-Sprachkenntnisse nicht ausreichen, stehen meiner Meinung nach die Träger in der Pflicht, entsprechende Sprachkurse zu organisieren.

Sie engagieren sich in der IHK – ein eher ungewöhnlicher Schritt für einen Kita-Geschäftsführer. Was treibt Sie an?
Von den 320.000 Mitgliedsbetrieben der IHK Berlin sind nur etwa 2000 Mitglieder gemeinnützige Organisationen. Dabei gibt es rund 9000 Betriebe, die einen gesellschaftspolitischen Beitrag in den Bereichen Umwelt, Nachhaltigkeit oder Soziales über Gewinnstreben stellen – und es werden immer mehr. Die sind in der Vergangenheit leider kaum gesehen worden, aber das ändert sich gerade und dafür möchte auch ich einen Beitrag leisten.

Ihre größter Kita-Wunsch für 2023?
Dass die Bildungspolitik in der Stadt weniger aus Rechtfertigungen für Vergangenes besteht und endlich wieder Pläne für die Zukunft geschmiedet werden. Wenn aus der „Aber wir haben doch schon das gemacht“-Haltung eine „Aber wir können gemeinsam Folgendes tun“-Einstellung würde – das könnte sicherlich schon eine Menge bewirken.

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