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Update

„Diese Wahl ist unsere letzte Hoffnung“: Wie Berlins türkische Community den Wahltag erlebte

In der Türkei wurde am Sonntag gewählt. Berliner mit türkischem Hintergrund erzählen, welche Kandidaten ihre Favoriten waren – und warum.

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„Diese Wahl ist unsere letzte Hoffnung“, sagt Murat Dogdu. „Auf Demokratie. Auf Freiheit.“ Der 45-Jährige steht mit seiner Familie auf einem Hinterhof in Berlin-Tempelhof, hinter ihnen wehen Türkeifahnen auf einer Schnur aufgereiht. Wer auf die Wahlparty der Oppositionspartei CHP will, muss an drei Sicherheitsmitarbeitern vorbei und seinen Rucksack öffnen. Zu groß ist die Vorsicht gegenüber den noch immer zahlreichen Anhängern des Präsidenten Erdogan in Berlin. Ist man drin, riecht man das Aroma von Sucuk, die auf einem Grill gart. An der Theke werden Bier und Raki ausgeschenkt, Kinder spielen an einem Tischkicker.

Rund zwei Drittel der Stimmen sind am frühen Abend ausgezählt, Erdogan liegt knapp vor dem aussichtsreichen CHP-Kandidaten Kilicdaroglu. Etwa 100 Menschen sitzen in kleinen Gruppen auf dem Gelände, schweigen oder unterhalten sich leise. Applaus brandet auf, als der Berliner CHP-Vorsitzende Kenan Kolat spricht – und die Menge auf eine mögliche Stichwahl vorbereitet. „Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen und eine lange Nacht“, sagt er dem Tagesspiegel.

Und wenn keiner der Kandidaten im ersten Anlauf die absolute Mehrheit holt? Die Generalsekretärin der CHP in Berlin, Demet Kilic, wird deutlich: „Dann könnte die Stimmung noch angeheizter werden.“ Sie habe neulich in der Türkei von außen Erdogans opulenten Palast angeschaut. „Man steht davor und sieht nicht das Ende. Ich möchte keine Ängste schüren, aber: So einfach werden die nicht gehen.“

Demet Kilic befürchtet, dass die Stimmung angespannt wird, wenn es zur Stichwahl kommt.
Demet Kilic befürchtet, dass die Stimmung angespannt wird, wenn es zur Stichwahl kommt.

© Adrian Schulz

Am Sonntagnachmittag unterwegs in Berlin

Natürlich habe Erdogan seine Macken, sagt die 53-jährige Nuran. „Aber er hat wenigstens etwas gemacht. Brücken gebaut, U-Bahnen in Istanbul.“ Sie sitzt am Mittag mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Teenager-Alter vor dem Frühstückshaus Evim auf der Richardstraße in Neukölln, die Teller sind leer, die Bäuche voll. Zurzeit ist sie Hausfrau, bald fängt sie als Anwaltsgehilfin an, sie trägt ein Kopftuch und lächelt zwischen den Antworten. Über die größte Oppositionspartei CHP sagt sie: „Die wollen keine Moscheen, die wollen die Religion einschränken. Erdogan ist für die Freiheit, er ist offen. Die Türkei ist ein muslimisches Land.“

Im Dönerladen Fulda Bistro ist es noch leer, nur ein Kunde steht vor der blankpolierten Theke. „Ich bin Kurde, aber kein Terrorist“, sagt er. „Ich habe 2009 die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen – aber hätte ich Erdogan wählen können, hätte ich es getan. Denn dank ihm ist die Türkei wieder stark. Dank ihm kennt die ganze Welt die Türkei.“ Er ist 55 Jahre alt, großgewachsen, trägt ein kariertes Hemd, darüber Pullover und schwarze Lederjacke.

Seinen Namen will der Mann nicht nennen, dafür offen sprechen. „In Deutschland habe ich immer CDU gewählt, mein Zuhause ist hier.“ Aber Erdogan dient ihm als Vorbild. „Die Türken haben in Deutschland hart gearbeitet, und Erdogan genauso.“ Auch er nennt: Brücken, Tunnel. Drohnen, die so gut sind, dass sie im Ukrainekrieg eingesetzt werden. Flugzeugträger. „Wir armen Menschen arbeiten hier, zahlen Steuern, damit Deutschland Griechenland mit Milliarden hilft – und nicht der Türkei.“ Heute seien zu viele Flüchtlinge aus der Ukraine im Land. Der Westen pflege eine Doppelmoral: „Die blonden Leute mit den blauen Augen lädt Papa Scholz ein.“ Die Türkei müsse Flüchtlinge aufnehmen. Wo schaut der Mann die Wahl? Gar nicht, denn er muss gleich arbeiten. „In der Gastronomie.“

Fünf Kilometer weiter westlich, bei Kenan Kolat, ist die Stimmung gut. Der 64-Jährige ist Vorsitzender des Berliner Ablegers der CHP, der größten türkischen Oppositionspartei. Ihre Anhänger schauen die Wahl im Stadtteil Tempelhof. „Gerade wird Suppe gekocht und frischer Börek gebacken“, sagt er am Telefon. Und die Wahl? „Von mir ist die Anspannung abgefallen, ich bin hoffnungsfroh.“ Selbst in Ankara, das als schwer zu begeisternde Beamtenstadt gelte, sei die Stimmung bei der letzten CHP-Kundgebung euphorisch gewesen. Wie schätzt Kolat die Situation in Berlin ein? „Es könnte zu Störaktionen kommen“, sagt er, durch Anhänger von Erdogans AKP. „Und zwar eher, wenn er verliert.“ Darum habe er schon im Vorfeld die Polizei über seine Party informiert.

Vor der Bäckerei M&M Back auf dem Kottbusser Damm sitzen vier Männer vor Pappbechern mit Tee. „Wir finden alle unterschiedliche Kandidaten gut“, sagt einer von ihnen stolz: Zwei sind Erdogan-Anhänger, einer befürwortet den CHP-Kandidaten Kilicdaroglu, und er selbst den Nationalisten Sinan Ogan. Und sie verstehen sich gut? Sie lachen. „Wir kennen uns seit 20 Jahren.“ Was Erdogan der Türkei Gutes gebracht habe? Der Älteste, er hat seine Beine übereinandergeschlagen, legt los: Autobahnen, Brücke, Tunnel – und formt mit beiden Händen einen Hohlraum, der die Röhre darstellen soll. „Kann man das essen?“, fragt der CHP-Fan in der Runde. Die hohe Inflation ist ein Grund für die hohe Unzufriedenheit mit Präsident Erdogan. Doch die vier müssen wieder lachen.

Vier Männer, drei Favoriten: „Wir kennen uns seit 20 Jahren“
Vier Männer, drei Favoriten: „Wir kennen uns seit 20 Jahren“

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„In der Türkei ist das System einfach kaputt“, sagt Mehmet Uzum im Café Bavul. Hier treffen sich am Abend Linke und Kurden, der Koch schneidet hinter der Theke Paprika in kleine Würfel. Im Moment wird aber eine Nachmittags-Zaubershow für Kinder vorbereitet, Uzum ist einer der wenigen Gäste. Er trägt Sakko und Schnurrbart. Seit einem Unfall ist der 57-Jährige in Rente, vorher arbeitete er auf der Baustelle. „Stell dir ein Haus vor ohne Tür, ohne Fenster. Das ist das System Erdogan. Wir versuchen jetzt, Türen und Fenster einzubauen.“ Ehrenamtlich fuhr Uzum Wähler mit einem Shuttle zur türkischen Botschaft. „Jeden Tag 40 Leute.“ Die Nationalisten von AKP und MHP hätten dafür Geld gezahlt, sagt er. „Auch ich bin Muslim. Aber ich möchte einen demokratischen Islam. In der Türkei regiert aktuell ein faschistischer Islam.“

AAArtemis, Francoise la mysterieuse und Aşkın kurz vor einer Nachmittags-Show für Kinder
AAArtemis, Francoise la mysterieuse und Aşkın kurz vor einer Nachmittags-Show für Kinder

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Mehtap Erol trägt heute Grün, wie die Farbe ihrer Partei. Die 51-jährige Kurdin hat für die grün-linke Yesil Sol Parti den Wahlkampf in Berlin organisiert, nun sitzt sie vor einer Orangenlimonade auf der Terrasse des Lokals Südblock am Kottbusser Tor. Drinnen läuft auf einer großen Leinwand türkisches Fernsehen, über die Lautsprecher wummert Musik, die Kellner tanzen zum Rhythmus. Draußen ist Erol in Sorge. Die Hoffnung überwiegt bei ihr noch nicht – sondern die Anspannung. „Ich habe nur zwei Stunden geschlafen, bis in die Nacht die Nachrichten verfolgt.“ Sie hat Angst um die kurdischen Gebiete in der Türkei, dorthin habe das Militär in den letzten Tagen Streitkräfte verlegt.

Mehtap Erol (rechts) und Mazlum Karagöz haben für die grün-linke Yesil Sol Parti den Wahlkampf in Berlin organisiert.
Mehtap Erol (rechts) und Mazlum Karagöz haben für die grün-linke Yesil Sol Parti den Wahlkampf in Berlin organisiert.

© Adrian Schulz

Die ethnische Diskriminierung, die sie als Kind in der Türkei erlebte, sei bei Weitem schlimmer gewesen als alles, was sie an Rassismus in Deutschland erfahre. „Als Kurdin kann man sich das nicht aussuchen“, sagt Erol „Man wird in die Politik hineingeboren.“ Die ständige Anwesenheit des türkischen Militärs habe sie eine Angst vor Uniformen entwickeln lassen. „Sogar vor dem Postboten habe ich mich gefürchtet.“

Als sie für die Yesil Sol Parti die Wahl im türkischen Konsulat in Berlin beobachtet habe, sei es ihr für einen kurzen Moment genauso gegangen. „Es kamen einige, die das Zeichen der grauen Wölfe auf der Kleidung hatten. Bei Demonstrationen sind wir denen immer nur kurz im Vorbeigehen begegnet, jetzt standen wir uns direkt gegenüber. Eine halbe Stunde vor dem Schließen des Wahllokals ließ das Botschaftspersonal keine Leute mehr rein, weil die Stimmung so aufgeheizt war. Ich saß fest und hatte große Angst.“

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