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Meinhard Schröder vor der Dorfkirche Alt-Tegel.

© Lisa Erzsa Weil

Dem Spuk von Tegel auf der Spur: Geschichtenerzähler ergründet die Geheimnisse des Berliner Nordens

Ob Poltergeist-Geschichte oder Goethe-Besuch – über den Reinickendorfer Ortsteil Tegel gibt es viel zu erzählen. Ein 80-Jähriger ist ein Meister darin.

Geschichte lebendig erzählen zu können – das ist Meinhard Schröders große Gabe. Wenn er seine historischen Anekdoten wiedergibt, weist er gestikulierend in Richtung Ort des Geschehens, verstellt seine Stimme, um die Protagonisten darzustellen, und vermittelt zwischendurch mit Humor und Freude allerlei Wissenswertes.

Schröder lädt zu Führungen durch den Norden Berlins ein. Oft geht es dabei um die Geschichte Tegels, beispielsweise den Schlossbezirk, die Borsigwerke oder die auf dem Russisch-Orthodoxen Friedhof begrabenen Kinder sowjetischer Zwangsarbeiter:innen.

Über die Verstorbenen schreibt er gerade an einem Buch, denn Schröder ist auch Autor. „Tegel – Zwischen Idylle und Metropole“ heißt etwa ein Band, den er 2015 beim Berliner Bebra-Verlag veröffentlicht hat.

Es muss ein Gerippe haben, aber auch Fleisch dran sein!

Meinhard Schröder, Stadtführer, über seine Geschichten

Wenn Schröder Geschichte vermittelt, dann lautet sein Motto: „Es muss ein Gerippe haben, aber auch Fleisch dran sein!“ Das Gerippe, von dem er spricht, das ist die Systematik, das Fleisch das Anschauliche. „Ich mag es nicht, wenn Leute nur Daten runterleiern.“ Am wichtigsten ist es dem gebürtigen Schweriner aber, dass die Besucher seiner Führungen etwas für sich mitnehmen können und Spaß haben – denn den hat er sichtlich selbst.

Manchmal ist die Historie des über 700 Jahre alten Ortsteils aber auch richtiggehend gespenstisch. Denn: In Tegel spukt’s! Ja, es ist sogar ein „Hotspot paranormaler Phänomene“, zitiert Schröder eine Webseite, die sich mit Geistern, Gespenstern und Co. befasst.

„Um die gefährlichen Strahlen abzuhalten, wohne ich auf der anderen Seite der S-Bahn-Gleise, in Neu-Tegel“, sagt Schröder schmunzelnd. Deshalb gibt der Tegel-Kenner bald wieder eine seiner beliebtesten Führungen: die Spukführung.

Sieben Spukgeschichten während einer Führung

An verschiedenen Orten bringt Schröder in der Walpurgisnacht am Sonntag, 30. April, insgesamt sieben Tegeler Spukgeschichten zu Gehör. Eine spielt dort, wo heute eine Senioren-Freizeitstätte steht. Ende des 18. Jahrhundert machte der „Spuk von Tegel“ im damaligen Forsthaus von sich reden. Ein Poltergeist soll dort sein Unwesen getrieben haben. Das Dorf, was damals weit vor den Toren Berlins lag, wurde von Besuchern regelrecht überrannt. Sie hofften, den Geist irgendwie zu erwischen.

Selbst Johann Wolfgang von Goethe griff die Tegeler Schauergeschichte auf: „Wir haben ja aufgeklärt! […] Wir sind so klug, und dennoch spukt’s in Tegel“, schreibt der Dichter und Naturforscher (1749-1832) in der berühmten Walpurgisnachtszene im „Faust“.

„So ein Quatsch“, sagt Schröder, denn zum Zeitpunkt des Erscheinens von Faust war der Spuk schon seit zehn Jahren aufgeklärt. Warum also erhält Goethe die Gespenstergeschichte, die sich insgesamt ganze 200 Jahre hielt, aufrecht?

Der „angepisste“ Goethe

„Er war angepisst“, formuliert es Schröder. Denn in der Szene spricht der „Proktophantasmist“, was übersetzt so viel wie Steißgeisterseher heißt. Gemeint sei Friedrich Nicolai gewesen, Verleger, Literaturkritiker und wichtiger Vertreter der Aufklärung. Dieser hatte in den Berlinischen Blättern vom Tegeler Spuk berichten lassen. Zuvor hatte Nicolai mit den „Freuden des jungen Werthers“ eine Parodie auf „Die Leiden des jungen Werthers“, den schon damals europaweit bekannten Briefroman von Goethe, verfasst.

Der Tegeler See wirkt bisweilen auch sehr geheimnisvoll.

© IMAGO/Jürgen Ritter

Goethe konterte unter anderem mit dem unflätigen Gedicht „Nicolai auf Werthers Grabe“ (aus dem Schröder bestens zitieren kann). Die beiden lagen also im Clinch, Goethe fühlte sich von Nicolai gekränkt. „Das war eigentlich unwürdig für ihn“, findet Schröder. „Ich muss sagen, dass ich Goethe bei meiner Recherche von einer Seite kennengelernt habe, die mich überrascht hat.“

Wie Schröder erzählt, besuchte Goethe Tegel im Jahr 1778, während seiner einzigen Berlinreise, in Begleitung von Herzog Carl August. Es ging unter anderem zum Speisen in den Alten Fritz und zu den Humboldts ins Schloss. Natürlich gibt es dort auch ein Schlossgespenst, weiß Schröder, der seine erste Tegeler Spukführung 2012 gab.

Als Zugezogener stellt man andere Fragen.

Meinhard Schröder, geboren in Schwerin

Der Tegelexperte wird dieses Jahr 80 – seine Neugier auf Geschichte und Geschichten sind ungebändigt. „Als Zugezogener stellt man andere Fragen“, findet Schröder, „guckt immer wieder neu hin, fragt sich: Wieso steht hier eigentlich ein Neubau?“ Was die Erkundung der Tegeler Geschichte angeht, wurde Schröder einst ins kalte Wasser geworfen: „Machen Sie mal was zu Tegel“, habe ihm 2012 der stadtgeschichtliche Arbeitskreis der Volkshochschule Reinickendorf gesagt, erinnert sich der studierte Theologe, der als Elektroniker und Betriebsleiter arbeitete und 1965 nach West-Berlin kam.

„Ich bin dann sofort in die Bibliothek gerannt, um meinen Vortrag vorzubereiten. Immerhin saßen da Leute, die sich schon seit 30 Jahren mit der Geschichte Tegels befasst hatten – ich hatte ja gerade erst angefangen.“ Die Resonanz war überaus positiv. Insgesamt 30 verschiedene Führungen durch die Geschichte Berlins hat Schröder seitdem entwickelt. Was er an seinem Tegel besonders liebt? „Vor allem den See!“, sagt Schröder. Der sei so schön verträumt.

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