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Sie waren Nachbarn - in der Jenaer Straße im Bayerischen Viertel: Hier wohnte Leonhard Wohl, hier wohnte Clara Wohl - beide von den Nazis ermordet in Auschwitz.

© Mike Wolff

Stolpersteinverlegung im Bayerischen Viertel in Berlin: „Es waren eine und einer und eine und einer und noch einer ...“

In der Jenaer Straße hat Gunter Demnig Stolpersteine zur Erinnerung an Holocaust-Opfer, die dort wohnten, verlegt. Hier Bilder und Texte zur Verlegung sowie historische Fotos.

Von
  • Mike Wolff
  • Markus Hesselmann

Sie waren Nachbarn - in der Jenaer Straße im Bayerischen Viertel: Hier wohnte Leonhard Wohl, hier wohnte Clara Wohl - beide von den Nazis ermordet in Auschwitz. Oben im Bild die Stolpersteine, die jetzt für die beiden Holocaust-Opfer an ihrem letzten Wohnort vor der Deportation verlegt wurden. Fotografiert von Mike Wolff, der auch die weiteren aktuellen Bilder in dieser Galerie gemacht hat. Hinzu kommen historische Bilder, die uns Angehörige zur Verfügung gestellt haben. Vielen Dank dafür!

© Mike Wolff

„Sie wurden entwürdigt, bespuckt und boykottiert“, sagt Peter Urbach, Enkel von Leonhard und Clara Wohl, in seiner Ansprache anlässlich der Stolperstein-Zeremonie für seine Großeltern. Vor verschiedenen Häusern in der Jenaer Straße werden an diesem Tag Gedenksteine für Juden, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden, verlegt.

Rabbiner Walter Rothschild spricht den Kaddisch für Leonhard und Clara Wohl.

© Mike Wolff

Rabbiner Walter Rothschild spricht den Kaddisch für Leonhard und Clara Wohl.

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Peter Urbach mit den Bildern seiner Großeltern Clara und Leonhard Wohl.

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Clara Wohl, geborene Jacobi, kam am 1. Mai 1894 in Naugard in Pommern zur Welt. Nach ihrer Heirat lebte sie mit Leonhard Wohl und vier Töchtern in der benachbarten Stadt Bublitz, wo die Familie ein Geschäft mit landwirtschaftlichen Produkten führte. Von den Nazis zum Verkauf genötigt, zog Familie Wohl Anfang 1938 nach Berlin. „Die Hauptstadt bot Anonymität und Nähe zu ausländischen Botschaften“, schreiben Lesley und Peter Urbach in einer Kurzbiographie, die sie anlässlich der Stolpersteinlegung für ihre Großeltern auf Englisch verfasst haben.

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Leonhard Wohl wurde am 2. Mai 1886 in Bublitz geboren. „Er hatte einen beeindruckende Gutmütigkeit“, schreiben seine Enkel über Leonhard Wohl. Mit viel Nachsicht habe er seine Kinder erzogen - oder genauer: sie vor allem mit Geschichten eigener Jugendstreiche zum Lachen gebracht, gern auch vorgetragen in holprigen Versen. „Unser Vater hat uns verwöhnt, unsere Mutter hat uns erzogen“, erinnerten sich die Wohl-Töchter.

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Wie seine Kinder unterhielt Leonhard Wohl (stehend) auch gern seine Kameraden im Ersten Weltkrieg.

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Als Unteroffizier bekam Leonhard Wohl 1916 das Eiserne Kreuz. Ilse Wohl erinnerte sich, dass die Eltern ihre Kinder zu deutschen Patrioten erzogen. Mit 15 schrieb die Tochter 1926 ein Gedicht, das mit den Versen endete: „Reich’ die schwarz-rot-goldene Fahne mir/mit diesem Zeichen siegen wir!“

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Das Geschäft von Moses Wohl (zweites Haus von links) im Jahr 1900 am Marktplatz in Bublitz. Mit seinem älteren Bruder Alex übernahm Leonhard Wohl später das großväterliche Unternehmen von seinem Vater Gustav Wohl.

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Ulli, Ilse, Eva und Käte Wohl. Die beiden jüngsten Töchter Ulli und Eva wurden von ihren Eltern nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 mit einem Kindertransport nach England geschickt und dadurch gerettet. Käte, die als 19-Jährige zu alt war, um für den Kindertransport zugelassen zu werden, gelangte mit einem Visum ebenfalls nach Großbritannien. Die älteste Tochter Ilse emigrierte mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn nach Uruguay.

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Das Hochzeitsbild der Wohls aus den frühen Zwanzigerjahren. Beide wollten sich vor den Nazis nach Chile in Sicherheit bringen. Visa lagen vor, das erste Gepäck war bereits vorausgeschickt worden, ihr Schiff sollte Anfang September 1939 ablegen. Doch dazu kam es nach Kriegsbeginn nicht mehr. Auch alle weiteren Versuche, nach Südamerika zu gelangen, scheiterten. „Geld futsch und Hoffnung begraben und wir wissen nicht was werden soll“, schrieb Clara Wohl an ihre Kinder.

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In der Jenaer Straße 5 zogen Clara und Leonhard Wohl in ein Zimmer einer Pension, nachdem sie ihre große Wohnung am Hohenzollerndamm aufgeben mussten. Aus der Jenaer Straße wurden sie, nach zwischenzeitlichem Aufenthalt einige Ecken weiter in der Landshuter Straße 35, im Jahr 1943 deportiert.

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Peter und Lesley Urbach, Sohn und Tochter von Eva Urbach, geborene Wohl, sind aus London angereist, um ihrer Großeltern im Bayerischen Viertel in Berlin zu gedenken.

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„Ihr wisst, liebe Leser, und könnt es verstehen: Den Sof, den Sof, den Sof möchte ich seh’n.“ Das war das Ende des letzten Gedichts, das Leonhard Wohl an seine Kinder schickte. Am 19. Februar 1943 wurden Clara und Leonhard Wohl nach Auschwitz deportiert. „Der Sof“, ein hebräisch-jiddisches Wort für „das Ende“, muss kurz darauf gekommen sein.

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Peter Urbach erzählt vom wunderbaren Humor seines Großvaters.

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Leonhard Wohl (zweiter von links) mit seinen vier Brüdern 1928. Sechs der insgesamt zehn Wohl-Geschwister wurden im Holocaust ermordet wie auch fünf Ehepartner und sechs Kinder. Clara Wohls einziger Bruder Walter entkam mit Frau und Kind vor dem Ausbruch des Krieges nach Ekuador.

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Clara Wohls Cousin Herbert Lewin (Bühnenname: Nivelli) war Jongleur und rettete sein Leben, indem er die Nazi-Schergen in Auschwitz mit seinen Tricks unterhielt.

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Gunter Demnig verlegte die Stolpersteine für Leonhard und Clara Wohl in der Jenaer Straße. Sein Kunst- und Gedenkprojekt, in dessen Rahmen er seit nunmehr 20 Jahren in mittlerweile 17 Ländern das nach seinen eigenen Worten „größte dezentrale Denkmal“ entstehen lässt, wurde unlängst in Berlin ausgezeichnet.

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Helmut Lölhöffel, Koordinator für die Stolpersteine im Bezirk, sagte in seiner Ansprache, dass allein aus Charlottenburg und Wilmersdorf 13.200 Juden zwischen 1939 und 1945 deportiert und ermordet wurden. In ganz Berlin waren es 55.000. „Jeder Stolperstein ist ein von Hand hergestelltes Kunstwerk. Jeder ist ein Einzelstück. Ein kleines Denkmal für Menschen, die keine Gräber haben. Die Nazis haben ihre Existenzen vernichtet und wollten ihre Namen auslöschen. Wir holen die Namen der Ermordeten an die Orte zurück, wo sie zuletzt freiwillig gewohnt und gelebt haben. Jede Inschrift beginnt mit den Wörtern: ‘Hier wohnte’.“ Serge Klarsfeld, habe einmal sinngemäß gesagt: „6 Millionen Opfer – eine unvorstellbare Zahl! Wir müssen immer daran denken: Es waren eine und einer und eine und einer und noch einer ...“ Helmut Lölhöffels Ansprache im vollständigen Wortlaut lesen Sie hier.

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Angehörige und Anwohner waren zu der Zeremonie in der Jenaer Straße gekommen. Für Helmut Lölhöffel sind die Stolpersteine nicht nur ein Kunst- und Gedenk-, sondern auch ein soziales Projekt, bei dem Nachbarn zusammenkommen und sich womöglich sogar überhaupt erst kennen lernen.

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„Wer die Namen lesen will, muss sich vor ihnen verneigen!“ (Helmut Lölhöffel)

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Einige Häuser weiter arbeitet Gunter Demnig bereits an den nächsten Stolpersteinen.

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Ken Singer ist aus den USA nach Berlin gekommen, um seiner Großeltern Alice und Siegfried Tradelius zu gedenken. Martina Schrey hielt mit ihrer Tochter Marta eine Ansprache. Die rbb-Reporterin hatte Hilde Singer, die Tochter der Eheleute Tradelius, in New York kennen gelernt und mit ihr eine Radiosendung gemacht. Ein Video zur Stolpersteinverlegung und zu den Ansprachen für Alice und Siegfried Tradelius sehen Sie hier. Der Tagesspiegel-Nachruf auf Hilde Singer ist hier zu lesen.

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Siegfried und Alice Tradelius lebten seit Beginn der Dreißigerjahre in der Jenaer Straße. Sie gehörten der jüdischen Reformgemeinde an, ausdrücklich verstanden sie sich als deutsche Staatsbürger und lehnten eine Emigration trotz der nationalsozialistischen Verfolgung ab. Diese und die folgenden persönlichen Informationen zur Familie Tradelius entstammen einer Biographie, die von der Stolperstein-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf erarbeitet wurde. Die Biographie im vollständigen Wortlaut lesen Sie hier.

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Alice Tradelius, geborene Cohn, stammte aus Posen und kam vermutlich 1906 als Jugendliche mit ihren Eltern, den Kaufleuten Johanna und Bruno Cohn, nach Berlin. 1910 heiratete sie Siegfried Tradelius und führte mit ihm gemeinsam ein Textilgeschäft in Mitte. Wegen angeblicher Geldtransfers nach Holland wurde sie - angezeigt vom eigenen Dienstmädchen - 1938 verhaftet. Im Polizeigefängnis in der Alexanderstraße nahm sich Alice Tradelius im Alter von 51 Jahren das Leben.

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„Ich mag mich nicht mehr umstellen; ich möchte in Deutschland mein Leben beenden“, hatte Siegfried Tradelius noch Mitte der Dreißigerjahre in sein Tagebuch geschrieben. Nach dem Tod seiner Frau und weiterer Anschuldigungen wegen angeblicher Devisenvergehen entschloss sich Siegfried Tradelius dann doch zur Flucht und reiste mit einem falschen Pass, den ihm seine im Widerstand gegen die Nationalsozialisten tätige Tochter Hilde besorgt hatte, Anfang 1939 über Belgien zu seinen Kindern nach Schweden. Dort ist Siegfried Tradelius am 25. August 1943 im Alter von 63 Jahren in der Emigration gestorben.

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In Gedenken an Alice und Siegfried Tradelius. Für die beiden wurden nun die Stolpersteine sechs und sieben vor dem Haus in der Jenaer Straße 21 verlegt.

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Und noch einmal einige Häuser weiter: “Wir verlegen heute, im 20. Jahr der Stolpersteinverlegung, Stolpersteine für Julius, Martha, Horst und Rolf Robert, die in unserem Haus, in der Jenaer Straße 11, gewohnt haben“, sagt Anwohnerin Christine von Arnim (gesamte Ansprache hier im Wortlaut). „Wir erinnern an diese Familie, obwohl wir gar nicht von Erinnerung sprechen können. Denn wir kennen niemanden, der sie kannte, mit ihnen verwandt war oder sich an sie erinnert.“ Es gebe keine feststellbaren Angehörigen, wenig Aktenmaterial, kaum Zeugnisse. „Rolf Robert ist am 17. August 1942, an seinem 17. Geburtstag, in Majdanek ermordet worden. Wie seine Eltern und sein kleiner 11-jähriger Bruder Horst umkamen, wissen wir nicht. Die Familie Robert aus unserem Haus Jenaer Str. 11 steht für viele jüdische Familien, die von den Nationalsozialisten regelrecht ausgelöscht wurden. Deswegen fühlen wir uns besonders verpflichtet, ihnen eine Art verspätete Verwandtschaft anzubieten und ihrer auf diese Weise zu gedenken.“

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„Als sich die Spur der Familie verliert, ist die Wohnung in der Jenaer Straße vermutlich schnell neu belegt“, sagt Christine von Arnim. „Wer das war und was er dachte, als er den Hausrat der jüdischen Vorbewohner vorfand, hat niemand freiwillig erzählt. Wir können uns das heute überhaupt nicht vorstellen: Eine Familie wird geholt, verschwindet und die im Nachbarhaus und die gegenüber auch. Das kann nicht geräuschlos zugegangen sein in dieser eher kurzen und engen Jenaer Straße, die mit dem heutigen Tag allein 35 Stolpersteine aufweist.“

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