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Beamte der Mordkommission nehmen die jungen Frauen in Empfang, die hier eine freiwillige DNS-Probe abgeben.

© Sidney Gennies

DNS-Massentest in Lichtenberg: Ein totes Baby - und 1600 Verdächtige

Ein totes Neugeborenes, abgelegt zwischen Gräbern und Müll. Ein Jahr lang hat die Berliner Polizei nach der Mutter des Kindes gesucht. Nun sind 1600 Frauen sind zur Speichelprobe geladen.

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Hier ganz in der Nähe muss es gelegen haben. Das Neugeborene. Neben Josef Brichzin, geboren 1881 und seiner Frau Bertha, 1885. Der ehemalige städtische Friedhof in der Ruschestraße in Lichtenberg ist verwildert, aber die Grabsteine sind noch da. Totenruhe zwischen jeder Menge Müll, in den Büschen liegen benutzte Taschentücher, kaputte Koffer und Kleidung, in den Baumwipfeln hängen etliche Tüten mit Hundekot. Hier hat vor einem Jahr jemand ein Baby abgelegt. Weggeworfen.

Jetzt, so hoffen sie bei der Polizei, könnte die Mutter endlich gefunden werden. 1600 Frauen und Mädchen ab zwölf Jahren aus der Gegend kommen in Frage. Ein DNS-Massentest soll Klarheit bringen, doch mit den Ermittlern kehrt auch das Misstrauen in einen Kiez zurück, der keinen Frieden mehr gefunden hat, seit jenem Dienstag im März 2016.

Die Spur des Stoffes. Das tote Kind war in dieses blaue Handtuch gewickelt, als es ein Spaziergänger fand.

© Polizei/Gennies

Die Mutter soll aus dem südosteuropäischen Raum stammen

Damals, gegen 15 Uhr, findet ein Spaziergänger die Leiche im Gestrüpp, verpackt in einem blauen Plastiksack, abseits des Mittelweges im Park. Das nackte Mädchen war gehüllt in ein hellblaues und ein rosafarbenes Frotteetuch. Die Leiche und die beiden Tücher sind womöglich der Schlüssel zu einem fast schon in Vergessenheit geratenen Fall. Über viele Monate hatten Analysten für die Polizei nach Spuren auch auf molekularer Ebene gesucht und neue Erkenntnisse über die Mutter erlangt.

Sie soll sich einen Großteil ihres Lebens nicht in Deutschland aufgehalten haben, aus dem „südosteuropäischen Raum“ stammen und erst einige Jahre vor Geburt des Kindes nach Berlin gezogen sein. Die Geburt selbst sei nicht fachgerecht erfolgt. Das Kind nicht richtig abgenabelt worden, die Nachgeburt eventuell nicht vollständig ausgestoßen. Vielleicht war auch das Leben der Mutter in Gefahr. Außerdem wollen die Forensiker Anzeichen dafür gefunden haben, dass die Frau mit einer dunkel getigerten Katze zusammen wohnte.

Im Kiez gibt es Misstrauen. Die Flüchtlingsunterkunft geriet schnell unter Verdacht.

© Sidney Gennies

Eine Ein-, keine Vorladung

Ein grauer Montagmorgen in einem grauen Viertel mit hochgeschossigen Häusern. Viel Waschbeton, viel Durchgangsverkehr, aber wenige Menschen. Wer hier langkommt, will irgendwo anders hin. Schräg gegenüber des verwahrlosten Parks betreibt das Deutsche Rote Kreuz – in einem der Gebäude der einstigen Stasi-Zentrale – eine Flüchtlingsunterkunft, ein Polizeibus parkt davor. Hier hat vor einem Jahr die Suche der Ermittler begonnen, hier soll sie enden.

Im Keller hat die Polizei seit kurzem Quartier bezogen, ein paar Bierbänke und Tische aufgestellt, 20 Polizisten führen die DNS-Tests durch. Vorne am Eingang sitzen zwei Ermittler der 7. Mordkommission, begrüßen jede Frau die hereinkommt, sprechen mit ihr. Manchmal, sagen Polizisten, erscheinen die Täter wirklich, um eine Speichelprobe abzugeben – aus Angst sich sonst verdächtig zu machen.

Eine der ersten an diesem Tag ist eine Frau aus Bulgarien. Sie ist, wie sie später erzählt, 33 Jahre alt. Eine Polizistin hilft ihr dabei, den Kinderwagen die Treppen hinunter in den Keller zu tragen. Sie hat ihre Tochter dabei, die gerade zweieinhalb Monate alt ist. Vom Fall des toten Kindes hat sie erst mit der Vorladung in ihrem Briefkasten erfahren. Das heißt, eigentlich ist es eine Einladung, der DNS-Test ist freiwillig. Doch jeden, der nicht erscheint, sieht sich die Polizei hinterher umso genauer an, im Zweifel kann die Staatsanwaltschaft dann auch einen Test erzwingen. Ist bei ihr nicht nötig, sie zeigt den Personalausweis vor, die Ermittler machen einen Haken hinter ihren Namen auf der Liste und weisen ihr den Weg zur Untersuchung.

Im Keller der Flüchtlingsunterkunft hat die Polizei für den DNS-Test Quartier bezogen.

© Sidney Gennies

Die Haare des Babys verraten, wo die Mutter vorher war

An der Wand hängen bunte Girlanden, aus Papier geschnitten, Palmen, Schmetterlinge und Weihnachtssterne. In der Ecke steht ein Klavier. Wo jetzt ein Verbrechen aufgeklärt werden soll, wird sonst gefeiert. Es ist gewissermaßen der Partykeller des Flüchtlingsheims. Die junge Frau nimmt Platz, öffnet den Mund, nacheinander streicht ihr der Polizist vor ihr mit zwei Wattestäbchen die Mundhöhle aus, A- und B-Probe werden versiegelt. Das war’s. „War nicht schlimm“, sagt die Frau, „aber ein bisschen diskriminierend fand ich das schon.“ Warum nur Frauen aus Osteuropa? „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Wissenschaft das so genau feststellen kann.“

Anruf bei Christine Lehn. Die Diplombiologin arbeitet am Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hier wurde das Gutachten angefertigt, das zu dem Schluss kommt, dass die Täterin aus Osteuropa stamme. „Die etwa drei Zentimeter langen Haare des Kindes sagen uns, wo die Mutter die letzten drei Monate vor der Geburt verbracht hat“, sagt Lehn. „Weil der Fötus bei der Knochenbildung neben Kalzium auch andere Elemente aus den mütterlichen Knochen zieht, wissen wir, wo die Frau früher gelebt hat.“

„So lange die Mutter nicht gefunden ist, ist doch jeder verdächtig.“

Der Fachausdruck lautet eigentlich Stabilisotopenanalyse. Dabei geht es um die stabilen Isotope der Elemente Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel sowie Strontium und Blei, die über die Luft, das Wasser und den Boden in den Nahrungskreislauf gelangen. Je nach geografischer und geologischer Situation weisen Pflanzen und Lebewesen unterschiedliche Isotopenwerte auf. Diese finden sich später im Gewebe wieder und lassen so Rückschlüsse auf die Aufenthaltsorte der Konsumenten zu.

So ähnlich haben es die Beamten beim DNS-Test auch versucht, der jungen Mutter zu erklären. Richtig verstanden hat sie es aber nicht. Sie erzählt, es sei ein Schock gewesen, von der Polizei geladen zu werden. „Totschlag“ steht als Vorwurf auf dem Anschreiben. Der Frau, die im angrenzenden Friedrichshain wohnt, geht der Fall sichtlich nahe – aber auch die Tatsache, dass sie nur wegen ihrer bulgarischen Heimat ins Visier der Ermittler geriet. Sie findet: „So lange die Mutter nicht gefunden ist, ist doch jeder verdächtig.“

"Früher hat es hier sowas nicht gegegebn"

Misstrauen und Skepsis haben sich festgesetzt in diesem Viertel. Weil die Menschen hier einander so fremd sind. Kurz nach der Tat, da erinnerten noch ein paar Fetzen des rot-weißen Absperrbandes der Polizei an den grausigen Fund, hatten die Anwohner ziemlich schnell einen eigenen Verdacht: Eine aus dem Flüchtlingsheim müsse die Täterin sein, so erzählten es sich die Nachbarn. Suchhunde hätten die Spur ganz klar zu der Unterkunft zurückverfolgt. Und überhaupt, wer sonst solle es gewesen sein? Früher nämlich habe es so etwas in ihrer Straße nicht gegeben.

Und während vor der einstigen Stasi-Zentrale schon wieder Kinder spielten und Mädchen mit ihren Schleifen in den Zöpfen herumturnten, berichtete ein Vater aus dem Irak, in seiner Heimat sei schon immer erzählt worden, dass im reichen Deutschland viele Babys ausgesetzt und getötet würden.

Der Eingang zum Park im März 2016.

© imago/Olaf Wagner

Statistische Wahrscheinlichkeit

Zwischen den Fronten stand damals schon und heute wieder Jens Quade. Er ist Präsident des DRK-Kreisverbandes Müggelspree und verantwortlich für das Flüchtlingsheim. Er steht vor dem Eingang zum Keller, wo der DNS-Test stattfindet und macht eine Raucherpause. Ja, sagt er dann, „ich habe damals ziemliches Bauchgrummeln gehabt“.

Das ungute Gefühl, dass vielleicht doch einer seiner Schützlinge etwas mit dem getöteten Kind zu tun gehabt haben könnte. „In unserem Heim leben mehr Frauen im gebärfähigen Alter als im ganzen Rest vom Viertel“, sagt er. Da sei der Verdacht eine Sache von statistischer Wahrscheinlichkeit. Und dann liege der Tatort auch noch in unmittelbarer Nähe.

Doch im Heim hat die Polizei schon im vergangenen Jahr Speichelproben von allen Frauen genommen, die infrage kamen, mehr als 400. Es gab keinen Treffer.

Eine andere Sozialstruktur als am Ku'damm

Das Gerücht vom Heim mit der Kindsmörderin hält sich in der Nachbarschaft allerdings bis heute. DRK-Mann Quade sagt, er habe mit solchen Vorurteilen schon gerechnet. Er hatte ja selber welche – gegenüber den Anwohnern. „Wir hatten Bedenken, hier ein Heim zu eröffnen“, gibt Quade zu. Die „Sozialstruktur im Viertel“, sagt er, sei „nicht gerade mit dem Ku’damm zu vergleichen“.

Am Ende aber habe es nur ein paar Vorfälle im vergangenen Jahr gegeben, Anfeindungen, Beschimpfungen, nie Gewalt. „In den anderthalb Jahren, die wir hier sind, haben wir bewiesen, dass es funktioniert“, sagt Quade. 650 Flüchtlinge leben derzeit im Heim. 1300 waren es, als im Kiez plötzlich an jeder Haustür die Fahndungszettel der Polizei hingen: „Totes Baby in Lichtenberg – 5000 Euro Belohnung.“

Die Ethnie der Täterinnen ist irrelevant

Dass der Fall nach einem Jahr mit so viel Aufwand noch einmal aufgerollt wird, hat nicht nur Quade überrascht. Grundsätzlich ist die Staatsanwaltschaft zwar bei Kapitalverbrechen immer zur Aufklärung verpflichtet – wie hoch der Aufwand auch sein mag. Doch Kindstötungen haben eine besondere Brisanz, sagt ein Kriminalist, der seit Jahren mit solchen Fällen befasst ist. „Gerade weil manche Täterinnen Hilfe brauchen, ist es wichtig, sie zu finden“, sagt er. „Egal, ob sie psychisch krank oder in der Gewalt eines skrupellosen Zuhälters sind.“

Außerdem sei bei Kindstötungen die Gefahr besonders hoch, dass es nicht bei einem einmaligen Vorfall bleibe, darin ist er sich mit der Rechtsmedizinerin aus München einig. Wenn die Mütter nicht gefunden, könne der Totschlag sogar zu einer „Art Verhütungsmethode“ werden. Bekanntheit erlangt hat der brandenburgische Ort Brieskow-Finkenheerd.

Dort wurden im Sommer 2005 neun skelettierte Babyleichen gefunden: sieben Mädchen und zwei Jungen. Ihre Mutter wurde ein Jahr später zu 15 Jahren Haft verurteilt. Sie hatte bereits drei Kinder, da ihr Mann keine weiteren wollte, verheimlichte sie ihm die nachfolgenden Schwangerschaften und ließ die Kinder nach der Geburt sterben. Die Täterin, Sabine H., war Deutsche. Der Kriminalist sagt: „Auch wenn das manche gerne hätten: Wir ermitteln nicht weniger intensiv, wenn es sich um ein Kapitalverbrechen im Trinkermilieu handelt oder ein Flüchtling einen anderen umbringt.“

Der Park, in dem der tote Säugling gefunden wurde, ist völlig verwahrlost.

© Sidney Gennies

Im Kiez weiß man schon, woher die Täterin kommt

Im Park gegenüber des Flüchtlingsheims schnuppert unterdessen der Golden Retriever Flocke an dem, was Passanten so zurückgelassen haben, sein Frauchen, rot-gefärbte Haare, etwas über 50 Jahre alt, hat Mühe, ihn zurückzupfeifen. Sie selbst sei aufgewachsen im Kiez, „ich bin Inventar“. Sie habe mit vielen Nachbarn gesprochen, was wiederum nicht viele hier von sich behaupten können. Es sei doch sehr anonym geworden, obwohl die Mietshäuser in der Ruschestraße längst nicht so riesig sind wie etwas weiter südlich.

Aber dennoch, die Alten sterben aus, ein paar Junge ziehen her. Man geht sich aus dem Weg. Nur im Park, wo die Grabstellen längst Hundeklos geworden sind, trifft man aufeinander, plaudert. Und was alle besser wissen als die Polizei, erzählt Flockes Frauchen, ist, dass die Täterin eben doch aus dem Flüchtlingsheim kommt. „Sie wissen ja, wie die Leute so reden.“

Am Ende des Tages werden erst 184 Frauen eine Speichelprobe abgegeben haben. Ob die Mutter darunter ist, können die Kriminaltechniker frühestens in einigen Wochen, wenn nicht Monaten sagen. So lange wird auch das tote Mädchen keine Totenruhe finden. Die Leiche bleibt in der Gerichtsmedizin.

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