zum Hauptinhalt

Berlin: Liebe nach Noten

Der Brite Michael Ratcliffe gehört zu den 45 Persönlichkeiten, die heute das Bundesverdienstkreuz bekommen. Sein berufliches Leben lang hat der Autor gegen Klischees gekämpft und kulturelle Brücken gebaut

Michael Ratcliffe war noch ein kleiner Junge, als während des Zweiten Weltkriegs die Druckwelle eine deutsche Zeitbombe schwere Zerstörungen in seiner Straße in Manchester anrichtete. „Den größten Schaden nahm unser Bechstein-Flügel.“ Die ganze Familie liebte Musik über alles. Lief er in jenen Tagen nicht Gefahr, ein bleibendes Ressentiment gegen die Deutschen zu entwickeln? „Nein“, sagt Michael Ratcliffe und rührt nachdenklich in seinem doppelten Espresso. „Unsere Familie hat immer gedacht, dass der Bechstein-Flügel Deutschland mehr verkörpert als die Bomben.“ Geholfen hat sicherlich, dass beide Eltern sehr musikalisch waren, dass auch der Sohn im Rückblick sagt: „Musik war die erste Liebe meines Lebens.“ Und natürlich gab es zwischen der Textilstadt Manchester und Deutschland, viele Verbindungen, besonders zu den Städten Leipzig und Chemnitz.

Heute bekommt der 68-jährige Brite von Bundespräsident Johannes Rau das Bundesverdienstkreuz überreicht, weil er „eine Brücke zwischen Deutschland und dem angelsächsischen Raum“ baute und in seiner Heimat zu den besten Kennern der deutschen Kultur gehört. Vielleicht lag’s am Vater, der Deutsch studiert hatte. Oder an seinem eigenen Interesse für Geschichte. Als er noch ein Schüler war, endete der Geschichtsunterricht in der Regel bei Bismarck. Neuere Geschichte kam nicht vor. Aber Michael Ratcliffe hat sich schon früh für Friedrich den Großen interessiert und viel über ihn gelesen. Nach dem Studium verspürte er eine Abneigung dagegen, als Lehrer zu arbeiten. Also wurde er Journalist.

Ein Schlüsselerlebnis war seine erste Reise nach Berlin im Jahr 1965. Er war damals für die Sunday Times unterwegs und sollte Günter Grass interviewen, dessen „Hundejahre“ in England Gesprächsthema waren. Berlin überwältigte ihn „mit einer unglaublichen Atmosphäre“. Er ging ins Theater, sah Inszenierungen von Erwin Piscator und Peter Weiss („Die Ermittlung“), er sah die Ruine des Doms, die größte, die er je gesehen hatte. Er verliebte sich in die Stadt. Seitdem ist er immer wieder zurückgekehrt, auch nach Potsdam natürlich. Als Literaturkritiker der Times schrieb er später über Golo Mann und Stefan Heym. Er versuchte, gegen Klischees anzukämpfen. Noch heute denken viele Briten an Nazis und fette Bäuche, wenn sie Deutschland hören. Der neue britische Botschafter machte kürzlich in einem Vortrag darauf aufmerksam, dass die Entfremdungstendenzen eher zunehmen, weil es vor allem junge Briten nicht mehr so nach Deutschland zieht.

Michael Ratcliffe hat immer dagegen gehalten, dass das Dritte Reich eine Abirrung war, die die guten Seiten der deutschen Kultur pervertiert hat. Die Machtergreifung der Nazis über eigentlich gute Worte wie Familie, Loyalität etc. hat ihn offensichtlich länger beschäftigt. Beethoven, Schubert und Haydn gehören zu seinen Lieblingskomponisten. „Vergessen Sie Verdi nicht“, sagt er lächelnd. Er bedauert es, nie richtig deutsch gelernt zu haben. Wie so viele Besucher aus dem englischsprachigen Raum fand er, dass die Deutschen lieber ihr eigenes Englisch an ihm ausprobierten. Allerdings hat er in den 80er Jahren als Theaterkritiker beim Observer gelernt, deutschen Aufführungen zu folgen. Als einer der ersten hat er in England über die Schaubühne geschrieben und über den „Kirschgarten“ gerät er heute noch ins Schwärmen. Berlin ist ihm über die Jahre so etwas wie eine Heimat des Herzens geworden.

Nach wie vor befindet sich sein Hauptsitz aber in England. Mitten in London züchtet er in seinem eigenen kleinen Garten Rosen. Kletterrosen mag er besonders. Obwohl er beruflich ganz an der Kultur orientiert ist, kann er auch leidenschaftlich über Politik reden. Dass er heute die Auszeichnung bekommt, war für ihn eine „wundervolle Überraschung“. Er hat das gefeiert mit einem verlängerten Wochenende in Berlin. Es begann mit einem Besuch in der Philharmonie. Dirigiert hat der Brite Sir Simon Rattle.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false