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Annemarie Cordes

© privat

Nachruf auf Annemarie Cordes: Wer ist diese furchtlose Frau?

Als Mädchen war sie so dünn und ängstlich. Als Frau öffnete sie Türen. Und zeigte expansionslustigen Wurstfabrikanten, wo der Hammer hängt

Von Kerstin Decker

Im Sommer 1989 besuchte sie eine West-Berliner Wurstfabrik, um die Wurstfabrikanten einzuschüchtern. Aber womit eigentlich? Die durchaus verständig wirkende Frau und ihr Begleiter erklärten, eine heruntergekommene polnische Kooperative kaufen zu wollen, und zwar genau die heruntergekommene polnische Kooperative, auf die auch die Wurstfabrik ein Auge geworfen hatte. Die beiden, das sah man gleich, hatten keine Ahnung von Ackerbau und Viehzucht, sie wollten die Kooperative auch gar nicht für sich, sondern für den „Klub der katholischen Intelligenz“ Polens. „Und dann machen wir aus Krzyżowa gemeinsam ein Zentrum deutsch-polnischer Versöhnung mit gesamteuropäischem Horizont“, schloss sinngemäß und mit Festigkeit der Besuch.

Von einer dümmeren Geschäftsidee hatte die Wurstfabrik noch nie gehört. Von Kreisau auch nicht. Und nicht von seinem früheren Besitzer Helmuth James Graf von Moltke, der noch im Januar 1945 von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde. Wegen Mitgliedschaft im Kreisauer Kreis, der eine Gesellschaft nach Hitler vordachte. Erst die Versicherung des Besuchs, die Fleischer würden ihren Namen noch in allen Zeitungen lesen, sollten sie bei ihrem Vorhaben bleiben, stimmte die Wurstfabrikanten nachdenklich.

Als Annemarie Cordes und ihr Begleiter die Tür hinter sich schlossen, wussten sie, dass sie nicht schlecht gewesen waren. Das Kind Annemarie hätte wohl gefragt: Wer ist bloß diese furchtlose, beredte Frau?

Alles, wovor sie Angst hatte

Als Mädchen wünschte sie sich vor allem eins: ein Tagebuch. In das Tagebuch würde sie mit ihrer schönsten Schönschrift alles eintragen, wovor sie Angst hatte. Und das war nicht wenig. Vorm Sportunterricht zum Beispiel, wo sie eine 5 bekam. Sie hatte Angst vorm Pferd, Angst vorm Bock und vorm Kasten sowie Angst vor dem Sportlehrer. Wer ein Tagebuch führt, verschwindet nicht. Und sie musste sehr aufpassen, nicht zu verschwinden. Kein Wunder, wenn man so dünn war wie sie und so eingeklemmt in den schmalen Tälern des Sauerlands, in die nie genug Sonne schien, und zwischen fünf Geschwistern. Annemarie sprach nicht viel. Unvorstellbar, sie könne einmal expansionslustigen Wurstfabrikanten erklären, wo der Hammer hängt.

Wer ein Tagebuch führt, den gibt es. Und doch, es war unmöglich. Ihre Schwestern würden es überall finden und lesen. Mutter Cordes schenkte allen sechs Kindern gleich wenig Beachtung, was ihr gerecht, katholisch und pädagogisch klug schien: Kein Kind möge sich wichtig nehmen, gar zu wichtig.

Andererseits: Wie kommt, wer sich nicht wichtig nimmt, zu einem Ich?

Den Sommer 1989 verbrachte Annemarie Cordes mit Geldsammeln. Sie brauchte dringend 10.000 DM. Nicht für sich, sondern für den „Klub der Katholischen Intelligenz“ Polens. Der dürfe Krzyżowa - Kreisau - kaufen, hatte der polnische Staat gesagt, unter einer Bedingung: wenn er sich beeile. 10.000 DM? Haben wir nicht, hätte der Klub antworten können, aber Annemarie Cordes wollte das so nicht stehenlassen. Sie war mit Freya von Moltke, die einst die Treffen des Kreisauer Kreises organisiert hatte, nun schon lange befreundet. Außerdem arbeitete sie in der Evangelischen Jugendbildungsstätte „Haus Kreisau“ am Wannsee. Sie hat den Namen immer als Verpflichtung verstanden.

Mit 10.000 DM durch den Eisernen Vorhang

Sie bekam die 10.000 DM. Die Spender hatten im Grunde nur eine Bürgschaft: Annemarie Cordes’ Ich, dieses unbedingt vertrauenswürdige Ich. Wenn diese Frau sagte, das Geld ist gut angelegt, eine Investition in die Zukunft, in die deutsch-polnische Zukunft, ja in die europäische Zukunft, dann wird das schon so sein. Die lag zwar hinter dem Eisernen Vorhang, war also eher eine Illusion, aber sie hatte es gesagt.  

Aber auch sie überfiel ein leiser Zweifel, als ein befreundeter Pole bald mit 10.000 DM bar in der Hosentasche hinter dem Eisernen Vorhang verschwand. Letzterer hatte unlängst zwar ein paar ungarische Löcher bekommen, zeigte sich sonst aber wehrhaft und feindselig wie immer. Eine Banküberweisung damals wäre unmöglich gewesen.

Annemarie Cordes hatte das Programm ihrer Mutter, gleichwenig Beachtung für jeden, längst in einem entscheidenden Punkt korrigiert: Allen Menschen gleich viel Aufmerksamkeit schenken, auch und erst recht vollkommen fremden, und gerade Kindern. Es braucht eine Tür, durch die der Mensch ins Freie treten kann. Für einige scheint sie von Anfang an weit offen zu stehen, andere müssen sie mühsam finden, manchen muss man sie zeigen. Sie war eine Türöffnerin. Annemarie Cordes’ Tür waren die Bücher.

Die Tagebücher der anderen

In Ermangelung eines eigenen Tagebuchs, las sie die erweiterten Tagebücher anderer Leute, auch Autoren genannt. Sie las alles, was sie fand. Die katholische Pfarrbücherei ihres Heimatortes hatte jeweils am Montag für zwei Stunden geöffnet und konnte sich darauf verlassen, dass ihre treueste Leserin Annemarie erschien. Sie lieh jeden Montag offiziell zwei Bücher für 10 Pfennig Leihgebühr, fünf weitere nahm sie - mit Rücksicht auf ihr Taschengeld - inoffiziell mit. Das war zwar Sünde, doch am kommenden Montag darauf standen alle wieder an ihrem Platz, als wären sie nie fort gewesen. Ein Buch für jeden Tag.

In den Büchern schaute Annemarie über die engen Täler des Sauerlands hinaus.

Und dann war sie weg. Es war nur folgerichtig, Journalistik zu studieren, denn in der Gesellschaft der Worte, der geschriebenen, hatte sie gelebt. Der Bock, der Kasten, über die sie jetzt springen musste, waren aus Buchstaben gebaut. Mainz. Freier Blick bis zum Horizont! In Mainz wehte ein anderer Wind, aber der Hauptwind, das spürte sie bald, war das noch nicht. Der kam eindeutig aus Berlin, näherhin von seinen Universitäten.

Sie fuhr mit einer Mainzer Delegation zum legendären Tunix-Kongress 1978 nach Berlin, auf dem die Linke ihre gescheiterten Träume zu Grabe tragen wollte: Tu nix. Statt dessen gaben diese Tage den Anstoß zur Gründung der Alternativen Liste. Sie war dabei, die junge Frau blieb. Sie wechselte zur Soziologie, denn wer nicht Soziologie studierte, konnte nicht mitreden.

In der Maoisten-WG

Die Uni-Gespräche gingen abends in der großen Maoisten-WG eines Abbruchhauses in Lichterfelde Ost weiter. Jeder zahlte 60 DM Miete, zwei Frauen und vier Männer. Unter ihnen war Annemarie Cordes’ späterer Mann, bald Hannah-Arendt-Sachverständiger. Ein Ich, auf das man sich verlassen kann, braucht natürlich auch, wer einer ganzen Maoisten-WG erklären will, ab sofort keine Maoistin mehr zu sein. Es war wohl doch der falsche Weg.

Als der letzte Außenminister der DDR Markus Meckel Annemarie Cordes im Frühjahr 1990 fragte, ob sie bei ihm anfangen wolle, zuständig für Entwicklungspolitik, wusste er, an wen er sich wandte. Gleich nach ihrem Studium hatte Annemarie Cordes die Leitung des ICYE übernommen, des „Christlichen Vereins für Internationalen Jugendaustausch“, ursprünglich gegründet zur Versöhnung zwischen Deutschland und Amerika. Unter der Generalsekretärin Cordes wurden immer mehr Länder des Südens aufgenommen. Türen öffnen! Als Entwicklungsbeauftragte eines Abwicklungslandes war sie ein lebendiges Paradox, das spürte sie wohl.

Im Oktober 1989 hatten genau die sieben Personen um ihren Wohnzimmertisch gesessen, die nötig sind, um einen Verein zu gründen. Kreisau-Initiative sollte er heißen. Der Klub der katholischen Intelligenz Polens hatte nun schließlich ein völlig verfallenes Gut am Hals, er brauchte Hilfe. Am 10. November 1989 traf sich die Kreisau-Initiative in Charlottenburg, um die Satzung und seine Grundlagen noch einmal zu diskutieren. Da stürmten plötzlich die Ostberliner Kreisau-Vertrauten in den Saal. DDR-Bürger also, die an ihrem ersten Tag im Westen nach dem Mauerfall nichts Besseres zu tun hatten, als eine Sitzung zu besuchen und eine Satzung zu diskutieren. So wurde die Berliner Kreisau-Initiative zum allerersten gesamtdeutschen Verein.

Wie das interpretieren? Sie hatte bald das richtige Wort dafür: Sie wurde Zeugin eines Kairos. Kairos meint den Einbruch der Ewigkeit in die Zeit, während der Chronos die in monotonem Gleichmaß verrinnende Zeit beschreibt. Man kann keinen Kairos herbeiführen, aber man kann ihn befördern: Zur richtigen Zeit das Richtige tun. Und vor allem darf man ihn nicht verpassen.

Noch in der evangelischen Jugendbildungsstätte „Haus Kreisau“, Christa Wolfs „Kein Ort nirgends“ im Sinn, den Blick auf die Havel, gründete Annemarie Cordes „LISA = Land in Sicht“. Es ging um Ausbildungsprojekte für Frauen, genauer: für Mädchen, von denen man gewöhnlich mit besorgtem Gesichtsausdruck und nicht ohne das Beiwort „schwierig“ spricht. Türen öffnen! Junge Frauen wurden zu Bootsbauerinnen auf einem alten großen Kahn auf dem Finow-Kanal.

Manchmal spürte sie ihr Herz, nicht nur, als ihr Mann nach langer Ehe die gemeinsame Wohnung verließ, ihr Sohn war längst erwachsen. Die Nichthandwerkerin konnte junge Frauen zu Handwerksberufen überreden, die Nichtmathematikerin startete Kampagnen wie „Mädchen, studiert Mintfächer!“, aber nie fiel sie durch den Aufruf auf: „Annemarie, treibe Sport!“. Wandern gehen, wenn man auch auf der Wohnzimmercouch lesen kann? Nur im Sommer kaufte sie sich eine Zehnerkarte fürs Prinzenbad zum Frühschwimmen. Als Corona kam, erreichte sie die Rekord-Lektüreergebnisse ihrer Schulzeit wieder. Die Herzklappen-OP im Januar nahm sie hin, 10 Tage höchstens gab sie sich Zeit für die Genesung, dann wollte sie zum Josef-Hader-Abend. Statt dessen bekam sie eine Lungenentzündung. Nach jedem vorsichtigen Besser-Werden ein neuer Rückschlag. Annemarie Cordes beschloss, ein Zeichen des Widerstands zu setzen und kaufte eine neue Zehner-Karte zum Frühschwimmen im Prinzenbad. Sie hat sie nicht mehr gebraucht.

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