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Carl-Georg Schulz

© privat

Nachruf auf Carl-Georg Schulz: Stundenlange Plenen

„Wäre ich doch nur mit einem Tiefbauingenieur verheiratet“, dachte seine Frau.

Über einer dampfenden Zwiebelsuppe lernten sie sich kennen. Calle war 22, studierte Architektur. Steffi war 20 und machte eine Ausbildung zur Gymnastiklehrerin. In der „Paris Bar“ saßen sie, er mit einem Freund, sie mit Freundinnen. Das Geld war knapp, der Magen rumorte. Erste Blicke, erstes Lachen. Danach ging es in das angesagte Lokal „Pipapo“, noch mehr Blicke, noch mehr Lachen, ein Kuss vielleicht. Dann zu ihr nach Hause. Leise mussten sie sein, schlichen im Gleichschritt über den Flur, so dass es klang, als ob nur eine Person nach Hause käme. Steffi wohnte zur Untermiete, Herrenbesuch war untersagt.

Calle hatte etwas Französisches: mit seinem Schnurrbart, dem Wellenhaar, den strahlenden, hellen Augen. Und dann dieses fröhliche Pfeifen, das sich immer wieder von seinen Lippen löste. „Ich war gleich verliebt.“ So sehr, dass sie ihrem aktuellen Freund, einem Langweiler, den Laufpass gab.

Nur Mitläufer, niemand, der aufbegehrt hatte

Calle war in Hamburg-Blankenese aufgewachsen. Zum Wasser, mal still, mal wild, zog es ihn immer wieder. Seine Familie war mal wohlhabend gewesen, sie hatten zwei Wohnhäuser in Berlin, doch nach dem Krieg war es vorbei damit. Kalle war wissbegierig und klug. Er kam aufs altsprachliche Gymnasium, lernte Latein und Altgriechisch. Nachmittags hörte er Musik, malte Bilder, ging mit seinen Freunden in Jazz-Clubs. Oft grübelte er über die Nazizeit und die Frage, wie tief die ganz normalen Leute in die Verbrechen verstrickt waren. Der Umstand, dass es in seiner Familie nur Mitläufer gegeben, niemanden, der aufbegehrt hatte, nagte an ihm.

Oft träumte er, zum Beispiel von einer großen Reise nach Mexiko, auf den Spuren des Schriftstellers B. Traven und dem Goldgräberroman „Der Schatz der Sierra Madre“. Immerhin, in den Sommerferien trampte er durch Frankreich, landete in einer kleinen Kirchenkapelle, nahm Stifte und Papier und malte sie. Das Bild hängt noch bei ihm an der Wand.

Sein Vater wollte, dass Calle in die Firma einstieg, einen Versandhandel für Bürobedarf. Doch Calle lag nichts ferner. Er lief mit seinem Parker barfuß durch die Straßen, ließ sich wegen einer angeblich chronischen Nebenhöhlenerkrankung von der Bundeswehr befreien und zog fürs Architekturstudium nach Berlin.

Gefahren unterwegs

„Wäre ich doch nur mit einem Tiefbauingenieur verheiratet“, dachte sich Steffi ein ums andere Mal. Denn mit Calle unterwegs zu sein, war zum einen gefährlich und zum anderen eine permanente architektonische Bildungsreise. Ersteres, weil er beim Autofahren mehr nach links und rechts blickte, als nach vorn auf die Straße. Letzteres, weil er sehr gerne Referate über Gebäude und ihre Geschichte hielt.

Glücklich sehen sie auf dem Hochzeitsfoto aus, füreinander bestimmt, gespannt auf die Zukunft. Ein Sohn kam auf die Welt, dann eine Tochter. Während die Eltern ihre Seminare besuchten, Steffi studierte inzwischen Soziologie, wurden der Nachwuchs im „Kinderhaus“ betreut, dem selbstorganisierten Kinderladen der TU. In stundenlangen Plenen wurden pädagogische Richtlinien diskutiert, die politische Lage und Beziehungsprobleme der Eltern natürlich auch. Alles war politisch.

Der Erker in der neuen Wohnung in Tiergarten war vielleicht sein Lieblingsort. Hier las er Bücher und Zeitungen, und wenn er den Blick hob, konnte er die Siegessäule sehen. Seinen Kindern baute er Hochbettburgen, begehbare Puppenhäuser und eine Schaukel im hohen Türrahmen.

Die Tochter saß häufig in der Küche und wartete auf ihren Vater, der so viel arbeitete. Stolz war sie auf ihn. Er war für sie der, der alles wuppte, auf den sie sich verlassen konnte. Wenn er dann kam, machte er sich erstmal einen Berg dicker Stullen, denn tagsüber war er kaum zum Essen gekommen. Was nicht hieß, dass es morgens sofort mit der Arbeit losging. Da brauchte er erst die richtige Stimmung. Ein Knopfdruckmensch war er nicht.

Er entwarf auch keine Kaufhäuser oder Luxuswohnungen, Calle half Hausbesetzern, die ihre kaputten Häuser mit Fördermitteln wieder bewohnbar machten. „Bauliche Selbsthilfe“ hieß das. Calle kraxelte durch die runtergekommenen Häuser, saß auf Hausbesetzerplenen, stellte Förderanträge, überwachte die Bauarbeiten der Hausbesetzer, die eher selten zu 100 Prozent den Vorschriften entsprachen. Auch den provisorischen Ausbau des „Tacheles“ an der Oranienburger Straße betreute er und beteiligte sich an den unendlichen Debatten über das Kunsthaus.

Denkt sein Sohn an Calle, sieht er ihn, wie er pfeifend mit ausladenden Schritten daherkommt, plötzlich stehen bleibt und einen Moment verharrt, eine typische Bewegung. Oder wie er dem Fußball hinterherrennt, ihn nicht hergeben möchte, mit ihm übers Feld dribbelt. Wie er beim Tischtennis jedem Ball hinterherhechtet. Er sieht seinen Vater, der immer älter wird und seinen Schnurrbart nie abrasiert.

Natürlich stritten Calle und Steffi, besonders als sie gemeinsam ein Buch über das Hansaviertel schrieben. Natürlich hatten sie ihre Eigenarten. Calle ordnete pedantisch das Geschirr in der Spülmaschine neu. Er rollte die Zahnpastatube ein, was Steffi hasste.

Und er hatte immer wieder seine grüblerischen, schwermütigen Phasen. Ein ums andere Mal ging er früher nach Hause, wo Steffi auf ihn wartete. Mitunter war das Geld knapp und die Sorgen groß, weil die Aufträge ausblieben. Doch was bedeutet all das, wenn man stundenlang zusammen frühstücken konnte, er holte Brötchen, sie deckte den Tisch. Wenn man sich die Zeitung teilte. Wenn man sich vom Tag erzählte und sich abends zusammen ins Bett legte.

Viel könnte man über den elenden Krebs sagen. Das Wichtigste vielleicht, dass Kalle noch lange nicht bereit war zu gehen, dass da noch so viel auf ihn wartete, dass er nicht zufrieden schien. „Du hast zwei Kindern die Welt gezeigt. Du hast sie in Liebe und Freiheit großgezogen. Sie sind in Liebe mit dir verbunden“, sagte ihm sein Sohn zum Abschied.

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