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Nachruf auf Henriette Konstanze Lillich: Die Eiserne

14 Jahre war sie alt, als Henriette aufhörte zu essen. Warum? Darauf gibt es keine Antwort, die nicht noch mehr Rätsel aufgibt.

Eine Wohnung, die ihr gehörte, das war Henriettes größter Wunsch. Sie müsste gar nicht groß sein, ein Zimmer, Küche, Bad. Familie oder Freund hatte sie ja nicht. Hauptsache etwas Eigenes, Sicheres. Sie wollte über die Fliesen entscheiden und über die Farbe an der Wand. Für die Wohnung arbeitete Henriette wie eine Verrückte, oft hatte sie drei, vier Jobs gleichzeitig.

Urlaub? Machte sie nicht. Neue Klamotten? Trug sie nicht. Teuer ausgehen? Wozu? Lieber traf sie sich auf ein Glas Tee, um dann für drei, vier Stunden politische Diskussionen zu führen. Wobei sie immer schon drei, vier Gedanken weiter war, als die anderen. Es war beeindruckend ihren Ausführungen zu folgen. Oder sie schrieb Nachrichten, den ganzen Abend über, oft mit drei, vier Freunden und Freundinnen gleichzeitig: über einen Artikel, den sie gelesen hatte; über ein Buch, das sie verschlungen hatte, über die Sorgen und Probleme der Freunde. Henriette war die, die zuhörte, die immer eine Lösung parat hatte. Kein Wort über ihre eigenen tiefen Sorgen.

Drei, vier Wohnungen hatte sie sich angeschaut, hatte jedes Mal gehofft, doch es war nie etwas daraus geworden. Dann aber, vier Wochen vor ihrem Tod, war es so weit. Henriette unterschrieb einen Kaufvertrag. So euphorisch war sie. Sie plante die Renovierung, die Einrichtung. Nein, sterben wollte Henriette auf gar keinen Fall.

Protest-Zettel auf die Thunfischdosen

Henriette war vielleicht fünf Jahre alt und noch gar nicht in der Schule, als sie sich über ein Buch beugte und unbedingt selber wissen wollte, was da geschrieben stand. Also kämpfte sie sich vor: Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort. Seitdem war die Bibliothek ihr zweites Zuhause und die Buchhandlung ihr drittes. Ihr erstes Zuhause war eine schöne, große Altbauwohnung mit bleiverglasten Schiebetüren am Lietzensee in Charlottenburg. Hier wohnte sie mit ihrer Mutter, einer Lehrerin, und einer älteren Schwester. In den Ferien ging es in ein Feriendorf, hier gab es einen Bauern, bei dem striegelte und fütterte sie die Kühe und spielte mit den Katzenbabys im Heu.

Weil sie es schlimm fand, dass der Mensch den Thunfisch aus dem Meer fischte und dabei Delphine gleich mit, klebte sie im Supermarkt handgeschriebe Protest-Zettel auf die Dosen. Auf den allermeisten Kinderfotos sieht man ein blondes Mädchen mit runden Pausbacken, das in die Kamera lächelte. Nur der Vater fehlte auf den Fotos, die Eltern hatten sich früh getrennt.

In der Schule kam ihre Wissbegierde nicht so gut an. Dass sie sich auch für alles interessieren musste, immer gute Noten schrieb und sich ständig meldete. Streberin. Dann trug sie nur Kleider, als käme sie aus Bullerbü, nie Jeans oder was anderes Cooles. Ob Henriette das traf? Sie ließ sich auf jeden Fall nicht beirren, trug weiter ihre Kleider. Stoisch konnte sie sein, eisern ihr Ding durchziehen.

14 Jahre war sie alt, als Henriette aufhörte zu essen. Warum? Darauf gibt es keine Antwort, die nicht noch mehr Rätsel aufgibt. „Von da an habe ich Henriette beim Sterben zugesehen. 23 Jahre lang“, sagt ihre Mutter mit Liebe, Wut und Resignation in der Stimme. Klinik, Therapie, Klinik, Therapie, das ganze Programm. Nichts half. Irgendwann gaben die Therapeuten auf und auch Henriette entschied, dass sie austherapiert war.

Auf den Fotos sieht man, sie wie sie immer hagerer wurde. Sie aß nur noch das allernötigste, um am Leben zu bleiben. Ihr Abi machte sie trotzdem – mit Bestnoten. Auch ein Politik-Studium zog sie durch. Nur an der Promotion scheiterte sie. Zu groß waren ihre Ansprüche, perfekt sollte die Doktorarbeit werden. Ein unglaublicher Druck, der auf ihr lastete. Bis sie die Reißleine zog.

Nachhilfe hatte Henriette schon immer gegeben, in der Schule, in der Uni, also machte sie das zu ihrem Beruf und fing bei einem Lehrinstitut an. Sie konnte geduldig erklären, aber auch streng sein, wenn nötig. Später kamen noch Willkommensklassen dazu und Deutschunterricht für Ausländer.

So stark und laut und fröhlich

Jeden Tag in der Woche füllte sie mit Schülern, mit Kursen, mit Unterricht. Und Henriette setzte sich auch jenseits der Kurse für ihre Schützlinge ein, kümmerte sich um Behördensachen, organisierte Ausbildungsplätze, suchte und fand Wohnungen. Immer war sie erreichbar, immer hörte sie zu, immer wusste sie Rat. Es gibt Fotos, auf denen sitzt sie inmitten einer Gruppe von jungen Frauen und Männern und lacht. Ihnen brachte sie Deutsch bei, organisierte für sie Ausflüge und Picknicks.

Tala zum Beispiel, ein junges Mädchen aus Syrien, das anfangs kein Wort Deutsch sprach, brachte sie durch die 10. Klasse und bis zu den Abiturprüfungen. „Irgendwann habe ich gar nicht mehr gesehen, dass Henriette so dünn war, dass sie eigentlich krank war. Sie war doch so stark und laut und fröhlich“, sagt Tala.

Henriette brachte Schokolade und Obst zur Nachhilfe. Für die gute Laune, die Konzentration der anderen. Sie selber trank nur warmes Wasser. „Henriette war wie eine große Schwester für mich. Ich habe sie jeden Tag angerufen, habe ihr erzählt, was gut lief, was nicht. Sie trug mich durch diese schwierige Zeit.“

Es gab Probleme beim Institut, Henriette verlor ihren Job. Ihre sechs Abiturmädchen ließ sie nicht im Stich, sie trafen sich weiterhin, privat und ohne Bezahlung, immer sonntags bei Henriettes Mutter, sie kochten, lernten und lachten, und alle bestanden das Abitur.

Henriettes Körper machte irgendwann nicht mehr mit, die Knochendichte nahm ab. Dann noch die zwei Fahrradunfälle, bei denen sie sich die Oberschenkel brach. Einmal stolperte sie über einen Rucksack. Immer war etwas, ihre Mutter machte sich jeden Tag Sorgen. Doch Henriettes Wille brach nicht. Sie hatte ja ihr Ziel vor Augen, die Wohnung.

Bis sie den Kaufvertrag unterschrieb. Bis sie sich auf den Umzug vorbereitete. Bis sie an diesem Abend letzte Nachrichten schrieb, an Tala, an einen alten Unifreund. Bis sie nicht mehr antwortete. Wieder war sie gestürzt.

All die Dinge, die sie gesammelt hatte, um anderen eine Freude zu machen: Kuscheltiere für die Kinder von Freunden. Stifte für ihre Schüler. Bücher, Spiele, Geschenke, all das verteilt nun ihre Mutter.

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