zum Hauptinhalt

© privat

Nachruf auf Joachim Artur Schmidt: Macht nichts, ist ja nichts passiert

Erst liebte er Irene und dann Thomas. Nach Thomas kam keiner mehr.

Manche Dinge erzählte er nicht. Dass er zum Beispiel schon eine Tochter hatte, Sandy, blieb jahrelang sein Geheimnis. Erst als seine zweite Tochter einen Brief vom Unterhaltsgericht auf seinem Schreibtisch fand, platzte das Geheimnis. Auch über die ganz große Liebe seines Lebens, Thomas, erzählte er kein Wort. Und dass er dann auch noch krank wurde, dem Tod zweimal knapp entkam, hätte er am liebsten verschwiegen. Doch seine Kinder ließen nicht locker, fragten nach.

Joachim war eins von vielen Kindern, sieben, acht oder neun. Ist ein Bruder gestorben oder zwei? Darüber wurde nie viel geredet. Schönhauser Allee, Prenzlauer Berg, das war die erste Heimat, an die Joachim sich erinnerte. Kurz nach dem Krieg arbeitete der Vater für die sowjetische Besatzungsmacht. Er war für Berlins Holzreserven zuständig. Joachim war wie fast alle Kinder damals auf der Straße unterwegs, am liebsten aber mit seinem nächstälteren Bruder Peter. Beide hatten das markante Kinn ihres Vaters mit Grübchen. Beide waren sie charmant, erzählten Unsinn und machten Blödsinn, zechten, als sie etwas älter waren, Nächte durch, fuhren betrunken Auto, ließen Kumpels ohne Führerschein ans Steuer. Als dann jeder sein eigenes Leben hatte, trafen sie sich freitags zum Skat.

Anfang der 50er floh die Familie in den Westen. Der Vater hatte irgendein krummes Geschäft betrieben und musste schnell verschwinden. Die Kinder schickten sie einzeln und an verschiedenen Stellen über die Grenze, Joachim durfte nur eine einzige Sache mitnehmen: Er entschied sich für seine eiserne Lokomotive.

In goldenen Trikots

In Wilmersdorf entdeckte Joachim die Bolzplätze, auch wenn da Zäune drum waren, und Platzwarte aufpassten. Ausbildungsplätze waren knapp, er lernte Dreher. Sein Ausbilder hatte eine eigene Fußballmannschaft, Joachim spielte linksaußen. Der Ausbilder hatte eine Schwäche für Gold, also traten seine Jungs in goldenen Trikots an. Diese Clique blieb befreundet, traf sich immer wieder, verreiste zusammen, bis Joachim der letzte war, der noch lebte.

Für ein Jahr ist Joachim mit einem Zirkus übers Land gezogen und hat im Zelt irgendwelche Dinge verkauft. Er hatte niemanden Bescheid gesagt, war einfach weg, und dann war er wieder da. Später war er Fahrer, lieferte Fleisch aus dem Großhandel aus. In einem Fleischereigeschäft stand sie, Irene. „Willst du mit mir tanzen gehen“, fragte er sie, und sie hat ja gesagt, obwohl sie schon verlobt war. Ihr Otto ging immer fremd, da konnte sie ruhig ein Tänzchen wagen. Sie trafen sich öfter, und während sie mal wieder tanzten, Arm in Arm, ganz dicht, fragte er sie, ob sie ihn heiraten möchte. So lieb war er, mit seinen Lachgrübchen. Zuhause sagte Irene ihrem Otto, dass er nicht mehr ihr Otto sei und jetzt seine Sachen packen müsse. Joachim war ihre große Liebe. 1970 war das.

Einmal hatte er seine Freunde zu Silvester eingeladen. Sie hatte alles vorbereitet, stand stundenlang in der Küche. Die Freunde kamen, einer nach dem anderen, sie kannte keinen davon. Nur Joachim tauchte nicht auf. Viel später torkelte er zur Tür herein, hatte sich in der Kneipe festgequatscht. Da hat sie ihm eine gescheuert. Wirklich böse konnte sie ihm aber nicht sein. Nie. Er musste sie nur anschauen mit diesem Blick.

Sie arbeitete am Wochenende, er kümmerte sich um die Kinder. Was dann hieß, dass er seinen Rausch ausschlief und sie das Kinderzimmer unter Wasser setzten. Macht nichts, ist ja nichts passiert. Später am Tag nahm er sie mit ins Stadion, wo er selber immer noch spielte. Irene gründete die Damenmannschaft mit und spielte auch. Joachim verkaufte inzwischen Eismaschinen und verdiente gutes Geld. Im Sommer ging es in den Süden.

Doch dann verliebte sich Joachim in Thomas. Ein junger Mann, der auf Fotos viel unschuldiger aussieht als er war. Joachim verließ Irene, es ging nicht anders, auch wenn er ihr das Herz brach. Seine Kinder holte er am Wochenende ab, brachte sie zum Training, auch wenn er immer zu spät kam. Waren sie ihm böse? Sicher, aber nie lange.

Nach ein paar Jahren musste sich Joachim von Thomas trennen. Zu dramatisch war das Leben mit ihm, zu häufig vergnügte Thomas sich mit anderen Männern. Joachim nicht, der war treu. Thomas hatte sich mit HIV infiziert und Joachim angesteckt. Irgendwann starb Thomas, Joachim liebte ihn immer noch, und nach Thomas kam niemand mehr.

Er war doch ihr Held, groß, stark und immer gut gelaunt

Die Zeit musste eine Katastrophe gewesen sein. Er hatte seinen Job als Eismaschinenverkäufer verloren, weil er mit einem Mann zusammen war, hatte sich selbstständig gemacht, war aber mit dem Papierkram überfordert. Als das Finanzamt seine Steuern schätzte, mehrere zehntausend Mark zu hoch, und er keinen Einspruch erhob, war er bankrott. Dann brach Aids auch bei ihm aus und er musste ins Krankenhaus. Ende der 80er war das.

Seine Tochter löcherte ihn, was los sei. Warum er, der doch ihr Held war, groß und stark und immer gut gelaunt, auf einmal so krank war. Doch Joachim schwieg. Bis er sich irgendwann doch öffnete. Sie dürfe aber niemanden etwas sagen!

Joachim hatte einmal Glück mit der Krankheit und noch ein zweites Mal, immer schlugen die Medikamente an. Doch irgendwann reichte es der Tochter, Joachim solle mindestens seinem Sohn Bescheid sagen. Was er dann auch machte, ein einziges Mal redeten sie darüber.

Joachim hatte wieder Glück, ein anderer Eismaschinenhersteller heuerte ihn an, und Joachim fuhr durchs Land und verkaufte, charmant und erfolgreich wie früher.

Die Tochter gründete ein Kreuzberger-Hausprojekt. Ob er nicht mit einziehen wolle, eine kleine Wohnung im Erdgeschoss sei frei. Das fand er gut. Hier war ein Kiez, er ging spazieren, saß im Café und redete mit den Menschen. Hier waren seine Enkel. Mehrmals in der Woche kochte er für die Familie. Wenn im Projekt jemand Hilfe brauchte, etwas mit dem Auto transportiert werden musste, war er zur Stelle. Die Kinder im Haus besuchten ihn, denn bei ihm gab es einen Fernseher und Schokolade.

Gestorben ist er im Mai 2022. Nicht an Aids, er starb einfach so, weil sein Körper alt geworden war.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false