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Rolf Beck

© privat

Nachruf auf Rolf Beck: Kein Sowjetmensch. Ein Bürger!

1956 kam er nach Ost-Berlin, 1961 wollte er in den Westen. Seiner Mutter zuliebe blieb er, verachtete das Land und passte sich an.

Von David Ensikat

Als er in die DDR kam, in die Freiheit, war er 20. Dass die Freiheit keine absolute Angelegenheit ist, wusste er da längst. Die ersten Dinge, die er tat: Er unterschrieb eine Verpflichtung, dass er die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre für sich behalten würde. Er trat der SED bei – die SED hatte ihn schließlich gerettet. Und er fuhr nach West-Berlin, um sich einen modischen Hut zu besorgen: Ich bin kein Sowjetmensch, ich bin ein Bürger!

Seine Eltern, Kommunisten, die Mutter Jüdin, waren Anfang der 30er in die Sowjetunion immigriert. Kurz nachdem Rolf dort zur Welt kam, wurde der Vater verhaftet und erschossen, die Mutter zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Es war die Zeit des großen Terrors. Rolf kam in ein Kinderheim, seine große Schwester in ein anderes, hunderte Kilometer entfernt.

Wenn er später über diese ersten Jahre sprach, dann sprach er nicht vom Trauma, das das Kind erlitten hatte, und das im Mann so oder so fortwirkte. Was kaum an der Verpflichtung lag, die er hatte unterschreiben müssen. Eher an dem Trauma selbst. Das drängt nicht an die Oberfläche, will nicht offengelegt, betrauert werden. Rolf sprach von dem Hündchen, das ihm zugelaufen war, das er versteckte, und das die Aufpasser dann doch entdeckten und ihm wegnahmen. Er erzählte, wie er hungrig Leute bestahl. Wenn er von dem Freund erzählte, der neben ihm im schmalen Bett schlief und eines Tages tot dort lag, blieben seine Augen trocken. Geschichten aus einer anderen Welt. Hab ich erlebt, stell Dir mal vor, ist aber lange her.

Geh und komm nie wieder!

Er war neun, als seine Mutter, freigelassen aus dem Lager, doch weiterhin in sibirischer Verbannung, ihn endlich zu sich holen konnte. Ein Soldat überbrachte den Knaben, der sich anfangs fürchtete vor dieser fremden Frau. Und der sie liebgewann, obwohl sie streng war, streng sein musste. Wer war er denn? Ein haltloses Bündel Mensch, das ausreißen wollte. Dann geh und komm nie wieder, sagte die Mutter. Und er blieb. Ging zur Schule, widerwillig, wurde Sanitäter, schwamm im Sommer im Jennissej, stieg im Winter über das sich auftürmende Eis.

Es kam das Jahr 1956, zaghaft wurden die Verbrechen der Stalinzeit benannt, ein alter Kommunistenfreund der Eltern, inzwischen in hoher DDR-Funktion, setzte sich für die Überlebenden ein. So gelangte Rolf mit Mutter und Schwester in die DDR, dankbar, heimatlos, ein deutscher Russe, der kein Wort Deutsch sprach und nun Medizin studieren sollte.

An der Universität lernte er Jens kennen, Jens Reich, der später eine gewisse Berühmtheit erlangen sollte, weil er so anders war. Er entstammte einer katholisch-bürgerlichen Familie, die Distanz zum Sozialistenstaat verstand sich für ihn von selbst. Sie lasen die russische Literatur und diskutierten darüber. Sie gingen in West-Berlin ins Kino, noch war die Grenze offen. Als Gustav Gründgens mit dem „Faust“ im Schillertheater gastierte, lösten sie einander in der Kartenschlange ab. Rolf besuchte einen russisch-orthodoxen Priester in Charlottenburg, einen gebildeten Mann, der ein altmodisches Russisch sprach, einen Mann, der ein Stück Heimat in sich trug. Sollte Rolf, Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei, sich taufen und konfirmieren lassen?

Als am 13. August 1961 die Grenze geschlossen wurde, fuhr Rolf zum Leipziger Platz, um sich das anzusehen. Noch kam man da rüber, irgendwie. Von einem Münztelefon aus rief er seine Mutter an: Ich gehe. Die Mutter brach in Tränen aus: Wenn Du mir das antust!

Es war anders als damals in Sibirien. Die Flucht war möglich, Rolf erwachsen, die Freiheit zum Greifen nah. Aber die Mutter hatte ihn gerettet, damals in Sibirien. Sie war die Sicherheit in seinem Leben. Deshalb war es dann doch nicht anders als damals in Sibirien. Er blieb.

Und arrangierte sich. Wurde Fachmann für Epidemiologie, arbeitete im Gesundheitsministerium. Trat mal aus der Partei aus oder wurde ausgeschlossen, das weiß niemand mehr genau, und trat wieder ein – Sei doch vernünftig! Er heiratete eine Frau, die noch viel vernünftiger war, und die Karriere machte. Er wurde Vater, ließ sich scheiden, behielt den Jungen bei sich, die Großmutter half.

So unabkömmlich konnte er gar nicht sein

Dass seine Karriere ins Stocken geriet, lag nicht an seinem russisch klingenden Deutsch – bis zum Schluss hörte man ihm seine Herkunft deutlich an. Er wollte Arzt sein und kein Ministerieller. Zunächst sollte er eine große Poliklinik leiten, doch dann galt er als unzuverlässig. So unabkömmlich konnte er gar nicht sein, dass er so vielen Parteiversammlungen fernblieb.

Er übernahm eine kleine Ambulanz in Prenzlauer Berg, und die genügte ihm vollauf. Denn inzwischen besaß er ein altes Pfarrhaus in der Uckermark. So oft wie möglich fuhr er dort raus mit Ivo, seinem Sohn, und Mascha, seiner zweiten Frau, im Wartburg über die holprige Autobahn und die Kopfsteinpflasterstraßen.

Dass Erich Mielke, der Stasi-Chef, gleich nebenan sein Jagdrevier besaß, bedeutete ja nicht, dass man bei Rolf nicht offen reden konnte. Jeder wusste, wie wenig er von Staat und Sozialismus hielt. Aber in der Partei blieb er, bis sie nichts mehr zu melden hatte. Als Jens, sein alter Studienfreund, ihn zu oppositionellen Gesprächskreisen einlud, ging er nicht hin. Er mochte forsch auftreten und manchen als arrogant erscheinen, aber das war wohl Fassade. Der Schutz des Mannes, der ein schutzloses Kind gewesen war.

Der Mauerfall, das neue Westleben – für Rolf Beck ein einziges großes Glück! Sein Sohn, der in den Westen gegangen war, war wieder da. Mit seiner Frau betrieb Rolf eine Arztpraxis am Kollwitzplatz, an den Wochenenden fuhren sie in die Uckermark, er musste sich vor niemandem mehr rechtfertigen, weder dafür, dass er einer Parteiversammlung fernblieb, noch dafür, dass er der Partei angehörte.

Auf die Frage, was er eigentlich sei, Russe, Deutscher, fand er schließlich eine Antwort. Jude! Seine Mutter war ja Jüdin, auch wenn ihr das nichts bedeutete, also bitte, Jude. Daher auch die Idee, auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee beerdigt zu werden. So wichtig war ihm das aber dann doch nicht, man hätte sich kümmern müssen. Also liegt er jetzt draußen in der Uckermark. Die immerhin könnte ihm eine Heimat geworden sein.

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