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Ursula Gode

© privat

Nachruf auf Ursula Gode: Sie tat so vieles. Und sie sagte so wenig

In der DDR machte sie nirgends mit, nach der Wende bei der SPD, der Caritas, der Arbeiterwohlfahrt und in so vielen Gremien. Und war dennoch allein.

Unter ihr fahren Züge, vor ihr Straßenbahnen, Autos, Fahrräder. Hinter ihr hocken Punks und Obdachlose. Junge Leute ziehen in Scharen Richtung RAW-Gelände, dem ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk der DDR, wo jetzt Kunst gezeigt wird, wo man rund um die Uhr tanzen und trinken und hübsche bunte Pillen einwerfen kann.

Sie steht an diesem Samstag im August 2006 auf der Warschauer Brücke, zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, 62 Jahre, 1,65 Meter, schlank, Jeans und T-Shirt (im Winter immer Jeans und Strickjacke), helle, rötliche Haare, Brille, fester Händedruck, rissige Fingerkuppen, in denen sich Reste von Gartenerde festgesetzt haben, sie kann schrubben, so sehr sie will, es ist nichts zu machen.

Mehr als 85.000 Menschen steigen an diesem Ort von der U-Bahn in die S-Bahn, in die Tram oder umgekehrt, es ist schon um zehn am Abend, neben ihr weht eine große SPD-Fahne. Am 17. September finden die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus statt. Ursula kämpft.

Die Ergebnisse für Friedrichshain-Kreuzberg: 30,1 % für die Sozialdemokraten. Stärkste Fraktion. Die Ergebnisse für Berlin: 30,8 % für die Sozialdemokraten. Stärkste Fraktion, Klaus Wowereit geht in seine dritte Amtszeit als Regierender Bürgermeister.

Niemand wurde treu

In der DDR war Ursula in keiner Partei, schon gar nicht in der SED, gehörte weder den Jungen Pionieren noch den Thälmannpionieren noch der FDJ an. Denn sie kam aus dem Eichsfeld, wo sehr viele Katholiken lebten. Die DDR-Staatsmacht hatte früh versucht, den Einfluss der katholischen Kirche zurückzudrängen und zu diesem Zweck den „Eichsfeldplan“ entworfen, der vorsah, die landwirtschaftlich geprägte Region zu industrialisieren, um aus aufsässigen Bauern getreue Proletarier zu formen. Der Plan scheiterte. Auch in Ursulas Familie. Niemand wurde treu.

Die Eltern gehörten zu den so genannten einfachen Leuten, Ursula war die erste, die die Gegend verließ und studierte. Allerdings über einen Umweg. Zuerst kam eine Ausbildung zur Buchhalterin, danach eine zur Nachrichtentechnikerin. In dem Betrieb, in dem sie lernte, fielen ihre guten Leistungen auf und man beschloss, sie im Rahmen eines Frauenförderprogramms zum Aufbaustudium an die Hochschule für Technik und Wirtschaft nach Berlin-Karlshorst zu schicken. Nach dem Abschluss arbeitete sie als Programmiererin beim größten Computerhersteller der DDR, im „VEB Kombinat Robotron“.

Sie heiratete, sie bekam eine Tochter, sie legte sich einen Garten in Wildau zu. Und sie beschloss 1995, der SPD beizutreten, in einer Zeit, in der „der große Frust“ herrschte, wie es ein Kollege von ihr ausdrückt, in der, nach den euphorischen Nachwendejahren, kaum noch jemand einer Partei beitrat. Ursula Gode sah die Verdrängung der alten Leute aus ihren Wohnvierteln, die Trinker an den ehemaligen Kaufhallen, die jetzt Supermärkte hießen, die verblühten Landschaften, trotz der frisch verputzten Fassaden. Das wollte sie so nicht hinnehmen.

Sie wurde Bürgerdeputierte in der Bezirksverordnetenversammlung. Unterstützte die Seniorenvertretung des Bezirkes, frauenpolitische Gremien, die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas. Half jeden Sonntag im Winter im Wärmekaffee der Stadtmission. Ging in die Katholische Kirchengemeinde St. Mauritius. War Kassenprüferin bei KALEB, „Kooperative Arbeit Leben ehrfürchtig Bewahren“, der ersten Organisation gegen Abtreibung in den neuen Bundesländern, die auf ihrer Webseite schreibt: „Wenn ein Kind Probleme macht, müssen die Probleme beseitigt werden, und nicht das Kind!“ Sie pilgerte zu Wallfahrtsorten in Bosnien, Polen und Fátima in Portugal, wo drei Hirtenkindern die Jungfrau Maria auf einem Feld erschienen sein soll. Eine Dame aus der Gemeinde sagt mit Nachdruck: „Ihr Weg war, näher zu Gott zu finden.“

„Seid fruchtbar, mehret euch!“

Sie tat so vieles. Und sie sagte so wenig. Was nicht hieß, dass sie nicht sprach, durchaus nicht. Privates jedoch kam in all den Gesprächen kaum vor. Obwohl es darüber eine Menge zu sagen gegeben hätte. Sie war manchmal traurig, bedrückt, das entging den Leuten um sie herum nicht. Es gab ein Zerwürfnis mit ihrer Tochter, das zumindest hatte sie preisgegeben. Nachdem ihr Mann plötzlich am Neujahrstag 2005 gestorben war, muss etwas Gravierendes, Unausräumbares passiert sein. Sie wusste später nicht einmal mehr, wo ihre Tochter lebte, ob sie, Ursula, vielleicht Großmutter geworden war.

Sie wirkte oft unnahbar, kühl. Stieß manche Menschen vielleicht ein wenig vor den Kopf. Zu ihr nach Hause sollte lieber niemand kommen, dafür lud sie gern ein in Restaurants. Erzählte von den Katzen und Kaninchen, mit denen sie seit dem Verlust von Mann und Tochter in ihrer Wohnung lebte, offenbar nach dem Bibelimperativ, 1. Buch Mose, Vers 22: „Seid fruchtbar und mehret euch!“ Da sie die Tiere nicht sterilisieren ließ, stieg deren Anzahl beträchtlich, was zu Ärger führte.

Am Ende besaß sie nur noch eine Katze. Und auch wenn manches an ihr eigenartig schien, mochten sie die jungen Leute. Einer nannte Ursula eine „coole Frau“. Weil sie Leuten, die anders als sie dachten, zum Beispiel während der Pandemie, zuhörte.

Sie liebte Kirschkuchen und dazu eine schöne Tasse Kaffee und neuerdings auch Baniza, ein bulgarisches Gebäck mit Schafskäse und Spinat, oder Haggis, gefüllten Schafsmagen, eine schottische Spezialität. Das alles in einer angeregt plaudernden Runde.

Dennoch fühlte sie sich wohl allein. In einem Facebook-Eintrag, nach einer Trauerfeier der Stadtmissionsgemeinde, zu der fast 30 Menschen kamen, schrieb jemand: „Eine unscheinbare, vereinsamte Nachbarin.“ Aber blieb ihr nicht Gott, nachdem alles andere verloren war?

Ursula starb an der frischen Luft, in ihrem Garten. Vielleicht an einem Herzinfarkt, vielleicht einem Schlaganfall. Der genaue Todestag ist nicht bekannt. Es gibt kein Grab.

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