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Nachruf auf Uscha Heiner: Niemand meint es böse

Schon in der Schule war sie die Lahme im Sportunterricht. Ihre Eltern kamen nie darauf, dass es eine Krankheit sein könnte. Mit zwölf dann die Diagnose: Muskeldystrophie.

In jeder Klasse gibt es einen, der vortrefflich läuft und turnt. Und dann gibt es einen, der im Sportunterricht immer als letzter auf der Bank sitzt, bevor er widerstrebend in eine Mannschaft gewählt wird. Da läuft die Lahme, riefen die Kinder Uscha hinterher, und auch ihre Eltern fanden, sie könne sich mal ein bisschen schwungvoller bewegen.

Aber Uscha konnte nicht, so sehr sie sich auch bemühte. Eine Zeit lang griff sie auf den Trick vieler Unsportlicher zurück und versuchte, witzig zu sein. Doch niemand lachte. Bei den Schwestern klappte alles wunderbar, so wie es sich die Eltern vorstellten. Sie stammten aus großbürgerlichen Verhältnissen und führten ein ebensolches Leben in Seesen, einer Stadt am Rand des Harzes in einem großzügigen Haus mit Garten.

Der Vater war Kinderarzt, ein angesehener Mann. Eigentlich hatte er Dirigent werden wollen, was dessen Vater jedoch verbot. Gleichwohl legte er eine imposante Sammlung klassischer Aufnahmen an, durch die Zimmer des Hauses schallten Beethoven und Verdi, er stand vor dem Plattenspieler und dirigierte, und Uscha sah und hörte zu. Verdi liebte sie besonders.

Eine Krankenschwester gab den entscheidenden Hinweis

Erstaunlicherweise kam ihr Vater, der Arzt, nicht auf die Idee, es könne bei seiner Tochter etwas Pathologisches sein. Erst eine Krankenschwester gab den entscheidenden Hinweis, da war Uscha schon zwölf. Langwierige Untersuchungen folgten. Die Diagnose: Muskeldystrophie. Eine Erkrankung, bei der sich das Muskelgewebe zurückbildet. Allerdings konnte nicht bestimmt werden, unter welcher Art der Krankheit sie litt. Erst 2008, Uscha war bereits über 40, stellte sich heraus, dass es sich um die Duchenne-Form handelte, bei der nicht nur die äußeren Muskeln betroffen sind, sondern auch die Organe, vor allem Herz und Lunge.

Bis 2008 hatte Uscha noch Hoffnung. Sie war krank, ja, man würde ihr ihre Krankheit zunehmend ansehen, an der Haltung der Hände, am Rollstuhl, aber es gab die Aussicht auf einen milden Verlauf. Und: Die Beziehung zu den Eltern hatte sich erheblich verbessert. Andererseits mischten sich Schuldgefühle in deren neue Zugewandtheit. Sie wussten, sie hatten ihr jahrelang Unrecht getan. Ihre Vorstellung von Leistung konnten sie dennoch nie ganz ablegen. Das Abitur musste sein, auch wenn es Uscha nicht leichtfiel.

Am Ende des Semesters waren sie ein Paar

Sie entschied sich, Logopädin zu werden, bis zum Beginn der Ausbildung aber war noch ein bisschen Zeit, für die sie sich an der Universität in Heidelberg einschrieb. An einem frühherbstlichen Tag betrat sie Hörsaal vier, nahm Platz in der Mitte des Raumes und wartete auf den Beginn der Vorlesung: „Das Regierungssystem in der BRD“. Ein paar Minuten darauf erschien Hubert, ein Lehramtsstudent, schaute sich um und setzte sich neben Uscha. Sie begannen eine kleine Unterhaltung, die im Lauf der Wochen zu einem langen Gespräch wurde. Am Ende des Semesters waren sie ein Paar.

Zu diesem Zeitpunkt konnte Uscha noch ohne Hilfsmittel aufrecht laufen, drückte ihren Rücken jedoch in ein starkes Hohlkreuz, um nicht nach vorn zu kippen. Junge, überleg dir, auf was du dich einlässt, sagte Huberts Mutter. Sie meinte es nicht böse.

Niemand meint es böse. Aber die meisten denken reflexartig an Leid und Belastung, wenn sie einem Menschen mit Behinderung begegnen. Als sei dieser ein großes Kind, das man lebenslang zu betreuen und zu pflegen hat. Erst im Jahr 2000 wurde die „Aktion Sorgenkind“ in die „Aktion Mensch“ umbenannt. Hubert sagt: „Uscha musste sogar darum kämpfen, dass man sie nicht für bescheuert hält.“

Ihre Logopädieausbildung musste sie, weil es körperlich zu beschwerlich war, nach vier Monaten abbrechen. Sie entschied sich für eine Lehre zur Bankkauffrau. 1994 zogen sie aufs Land, in ein Dorf, durch das einmal in der Woche der Bäckerwagen fährt. Am Tag des Einzuges fiel trüber Schnee. Doch es folgten viele herrliche Sommer.

1996 kam „Bubbles“ ins Haus, ein Golden Retriever

Gab es zu irgendeinem Zeitpunkt einen Zweifel bei Hubert? „Für einen Moment“, sagt er. Es ging um die Frage nach dem Kind. Beide wünschten sich mindestens eines. Als klar war, dass es nicht klappen würde, so erinnert sich Hubert, habe er nachgedacht. Aber der Augenblick verflog, rasend schnell. Sie dachten an Adoption. Die Reaktion des Jugendamtes: Sie allein, Herr Heiner, hätten gute Chancen.

Die Krankheit schritt voran. 1996 kam „Bubbles“ ins Haus, ein Golden Retriever, ein Begleithund. Begleithunde assistieren Menschen mit Behinderung, beim Öffnen einer Tür, beim Holen von Medikamenten, beim Ausräumen der Waschmaschine. Uscha begann, den Hund selbst auszubilden. Eine Ungeheuerlichkeit - in den Augen von Menschen ohne Behinderung. Wer nicht laufen kann, dachten sie, kann keinen Hund trainieren.

Uscha und ihre Mitstreiter im Verein „Hunde für Handicaps“, den sie zwischen 1999 und 2010 leitete, hielten dagegen, dass die Gehandicapten selbst ihren Alltag am besten kennen. Dazu lehnen es die Krankenkassen ab, die Ausbildung von Begleithunden, im Gegensatz zu Blindenhunden, zu finanzieren. Sie unterscheiden zwischen „mittelbarer“ und „unmittelbarer“ Hilfe. Ein Blindenhund führt unmittelbar über die Straße; ein Begleithund hebt eine Socke vom Boden auf, ein mittelbarer Vorgang, den man auch wesentlich preiswerter mit einem Greifgerät erledigen könne, so die Krankenkassen.

Uscha und die anderen im Verein ließen sich nicht entmutigen, sammelten Spenden, vernetzten sich europaweit, bildeten weiter Hunde aus.

Irgendwann konnte sie nicht mehr. Jede Bewegung, jeder Atemzug eine Tortur. Sie wollte ein Brötchen essen, biss hinein, kaute, ein Krümel gelangte in die Luftröhre, es gelang ihr nicht zu husten, dieses winzige Ding wieder hinaus zu befördern, zu schwach die Muskulatur...

Im Mai 2019 war Uscha ein letztes Mal in die Staatsoper gegangen, Verdis „Macbeth“. Ganz oben hat sie gesessen, da, wo die Rollstuhlfahrer hindürfen, hat auf die Sänger hinabgeschaut, auf das Orchester und jeden Takt mitdirigiert.

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