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Waltraut Schwarze

© privat

Nachruf auf Waltraut Schwarze: Es fing mit der Wäsche an

Früher trug sie ihren Bruder kilometerweit. Später begleitete sie ihn auf seinen Schlager-Tourneen.

Erich Kästner schickte seine dreckige Wäsche per Paket von Berlin nach Leipzig zu seiner Mutter. Die wusch sie und sandte sie feinsäuberlich wieder zurück. Ansonsten schrieben sie sich täglich Briefe. Bei Waltraut und ihrem Bruder war das ähnlich. Kaum war Waltraut in Rente, kaum hatte sie sich von ihrem Partner getrennt, übernahm sie ungefragt das Regime im Haushalt ihres Bruders.

Es fing mit der Wäsche an, die sie irgendwann in den 1990er Jahren einfach zum Waschen mitnahm. Dann begleitete sie ihren Bruder, wenn der auf Schlager-Tournee durch Deutschland war. Die Crew, die Musiker, die Bühnenshow, die Fans - und Waltraut mittendrin. Sie stellte einen Tisch auf, drapierte seine CD’s, sein Buch, die T-Shirts mit seinem Gesicht drauf und machte das, was sie am besten konnte: mit Leuten reden, mit ihnen lachen, sie um den Finger wickeln. Zuhause organisierte Waltraut den Versand und war überhaupt zur Stelle, wenn irgendetwas beschafft oder organisiert werden musste. Noch mit dem Rollator kurvte sie für ihren Bruder durch die Stadt. Sie machte es gerne.

Nichts Böses sollte dem kleinen Bruder passieren

Als der Krieg zurück nach Deutschland kam, die Bomben fielen und Erich Kästner seiner Mutter immer noch Wäschepakete sendete, verließen die achtjährige Waltraut und ihre schwangere Mutter Berlin in Richtung Osten, um wenige Monate später und mit dem kleinen Bruder im Kinderwagen auf gefährlichen Wegen zurückzukehren. Waltraut schob und trug das Baby, Kilometer um Kilometer, nichts Böses sollte ihm passieren.

Großmutter, Mutter, Schwester und Bruder wohnten in einer Einzimmerwohnung in der Reuterstraße in Neukölln. Die Großmutter schlief in der Küche, Waltraut und die Mutter im Bett, der Bruder auf der Couch. Die Mutter ging arbeiten, die Großmutter erzog die Kinder. Jetzt war der kleine Bruder eher lästig, ständig sollte Waltraut auf ihn aufpassen, dabei wollte sie lieber mit Freundinnen tanzen gehen.

Schule, kaufmännische Ausbildung, Job in einem Möbelhaus, Hochzeit mit einem Ofensetzer, Scheidung vom Ofensetzer, eine Affäre: Die 50er Jahre vergingen schnell. Waltrauts großer Wunsch: selbst Chefin sein, einen eigenen Laden haben. Sie legte jeden Pfennig beiseite, arbeitete zusätzlich in einer Kneipe, bis sie eine kleine Parfümerie in der Nähe vom Flughafen Tempelhof eröffnete. Der Bruder, inzwischen Dekorateur, half mit der Inneneinrichtung, die perfekt nach immer wechselnden Themen abgestimmt sein sollte. Spanien zum Beispiel, er dekorierte das Schaufenster entsprechend, sie trug ein Flamenco-Kleid, es lief Flamenco-Musik. Sie liebte das: mit den Kundinnen sprechen, mit ihnen herausfinden, welcher Geruch zu ihnen passte, sie zum Kauf verführen. Dennoch reichte es nicht. Nach Ladenschluss musste sie immer noch in die Kneipe, Bier zapfen, Tische wischen, mit den Gästen quatschen.

Eine spontane, eher zufällige Kurzreise führte sie, warum auch immer, nach Eschershausen. Dort landete sie, warum auch immer, in der „Astra-Klause“. Dort war sie vom Sohn des Wirts sehr angetan. Er mag charmant gewesen sein, sie einsam, auf jeden Fall heirateten die beiden.

Schon am Abend der Hochzeit verpasste er ihr eine Ohrfeige. Drei Jahre hielt sie es mit ihm aus, schloss ihre Parfümerie, machte mit ihm eine Kneipe auf, bekam mit ihm einen Sohn, schleppte die Getränke aus dem Keller, wenn er noch im Bett schnarchte. Endlich ließ sie sich scheiden, das Gericht gab ihm die Schuld fürs Scheitern der Ehe.

Zurück in der Reuterstraße, jetzt teilten sich Waltraut, ihr Sohn und die Uroma das eine Zimmer, die Küche und das Bad auf halber Treppe. Waltraut arbeitete fürs statistische Bundesamt, bandelte wieder mit der Affäre von vor zehn Jahren an. Und dann passierte etwas, das sich niemand mehr so recht erklären kann. Im Alter von neun Jahren kam ihr Sohn in ein Heim. Ob Waltraut ihn dort hingebracht hat, ob das Jugendamt es verfügt hat, lässt sich nicht nachvollziehen.

Dann machte sie Stunk

„Wir haben uns viel gestritten, ich war ein schwieriges Kind, habe viel Unsinn gemacht, und sie war allein“, sagt ihr Sohn, der auf keinen Fall einen Vorwurf erheben möchte. Sieben Jahre lebte er in einem Heim in der Lüneburger Heide, besuchte Waltraut in den Ferien, dann unternahmen sie etwas. Das war schön. Nur die letzten Tage, wenn die Rückkehr ins Heim bevorstand, wurde ihm bang ums Herz.

Was sie dachte und fühlte? Wer weiß. Als der Sohn groß war, half sie ihm, wo immer sie konnte. Einmal schuldete ihm eine Firma, die Dachstühle baute, noch einige Lohnzahlungen. Sie ging mit ihm hin und machte einen Aufstand, bis der Chef das Geld rausrückte. Ungerechtigkeiten konnte sie nicht dulden, egal ob sie ihr oder anderen zustießen. Dann machte sie Stunk. Mit Waltraut legte man sich besser nicht an. So lieb und zugänglich sie für die einen war, wenn ihr jemand blöd kam, wurde sie biestig.

Als ihre Mutter starb, bezahlte sie im Beerdigungsinstitut schon einmal für ihre eigene Beerdigung: 4999 Mark für alles. 25 Jahre später ging sie wieder hin und wollte Zinsen für ihr Geld haben. Das klappte nicht, stattdessen musste sie nachzahlen, Beerdigungen werden immer teurer. Immerhin, wenn sie die Geschichte erzählte, musste sie selbst am meisten lachen.

Waltraut begleitete ihren Bruder von Show zur Show, von Gala zu Gala, von Stadel zu Stadel. Immer schick gekleidet: passender Hut zur Bluse, dazu passten Armbanduhr, Kette, Ohrringe und Schuhe; selbst die Taschentücher, die Lesebrille und das Brillenetui waren farblich abgestimmt. Und spät abends, wenn alle kleinen und großen Schlagersterne zusammensaßen und klönten, lachten und schwärmten, saß Waltraut mittendrin. Sie war „Trautchen“. Jeder mochte sie. Mit ihr konnte jeder seine Sorgen, Probleme und aktuellen Verwicklungen im Liebesleben teilen.

Ein roter Hut lag auf ihrem Sarg - der, den sie immer mit der roten Kette getragen hatte - als sich ihr Bruder, ihr Sohn und mehr als hundert nahe und ferne Bekannte von ihr verabschiedeten.

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