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Wolfgang Stocker

© privat

Nachruf auf Wolfgang Stocker: Bis er den neuen Anfang wagte...

In der Studenten-WG war er für die analytische Kritik zuständig. Dem eigenen Sohn mit mehr Verständnis zu begegnen, musste er erst lernen

Im Magazin der „Zeit“ entdeckte Wolfgang eine Kontaktanzeige. Eine Landschaftsplanerin suchte jemanden, der ihr Halt und Wärme geben konnte. Mehr nicht, keine schönen Worte über Äußeres oder andere Vorzüge. Das gefiel Wolfgang. Halt geben konnte er. Das hatte seine verstorbene Frau auch immer gesagt. Sieben Jahre war er nun allein gewesen, genug Zeit, um zu trauern, zu lernen, nach vorne zu schauen. Jetzt wollte er sein Leben, sein Haus, seinen Garten, seine Wärme wieder mit jemandem teilen. Also schrieb er zurück.

„Wolfgangs Brief war der erste, der mich erreichte“, sagt Margret, die Frau aus der Anzeige. Nur zwei der vielen Briefe nahm sie mit ans Meer, ging am Strand spazieren und entschied sich, nur Wolfgang zu antworten. Kurze Zeit später hatte sie eine Nachricht von ihm auf ihrem Anrufbeantworter, dann trafen sie sich im Botanischen Garten. „Wir waren von Anfang an so vertraut. Wir haben dieselben Lokale in Berlin besucht, haben Reisen in dieselben Länder gemacht.“ 2014 war das.

Wolfgangs Leben hatte in Weilimdorf begonnen, einem Stadtbezirk von Stuttgart. Die Familie hatte ein Haus und ein Stück Land mit Obstbäumen. Sommer für Sommer halfen Wolfang und sein Bruder bei der Ernte. Die Mutter war liebevoll, der Vater als Handelsvertreter viel unterwegs. Ein alter Schulfreund erinnert sich, dass Wolfgangs Eltern fast schon unheimlich nett waren. Wenn der Vater aber unverhofft streng wurde, hieß es Kopf einziehen und flüchten. Wolfgang ging dann in seine alte Garage, hörte Musik, lernte Gitarre oder spielte Flipper. Er lud auch seine Freunde ein, die auf dem Sofa lümmelten, Wein tranken und die unbeaufsichtigte Freiheit genossen. Im Winter heizte Wolfgang den Ofen ein, las ein Buch und rauchte Pfeife.

Da war er längst verliebt...

Berlin, Freiheit, kein Wehrdienst. Wolfgang studierte Volkswirtschaft und Germanistik. Seine erste Wohnung war eine riesige WG auf über 200 Quadratmetern in der Potsdamer Straße 130a. Hier wurde der Vietnamkrieg verhandelt, die Positionen der linken Splittergruppen auseinandergenommen, Flugblätter geschrieben, Demo-Besuche geplant. Wolfgang war für die analytische Kritik zuständig. Er hatte Karl Marx gelesen und verstanden. Doch Wolfgang übernahm nicht einfach einen Standpunkt, weil er gerade angesagt war. Er erarbeitete sich seine Haltung. Er trat auch in keine Gruppe ein, dafür war er zu eigenständig.

Plötzlich stand Erika in der WG. Klein, blonde Haare, mit einer besonderen Herzlichkeit ausgestattet. „Erika ist nett“, schreibt Wolfgang nüchtern in sein Tagebuch, da war er längst verliebt. Es dauerte eine Weile, bis sie zueinanderfanden, so schüchtern war er. Sie zogen zusammen, erst in eine WG, dann in ein eigenes Haus mit Garten in Steglitz. Erika rang mit mehreren Krebserkrankungen, hatte auch eine Unterschenkelamputation hinter sich, trug eine Prothese. Aber sie fuhr Fahrrad, machte alles mit, Ausflüge, Reisen. Und wenn sie krank wurde, gab Wolfgang ihr Halt und Wärme.

Sie wünschten sich so sehr ein Kind. Nach langem Procedere durften sie einen kleinen Jungen adoptieren, 1994 war das. Wolfgang war für die Abenteuer zuständig: Mehrtägige Bootsfahrten, Fahrradtouren, sogar eine kleine Tour de France. Als aus dem Jungen ein Jugendlicher wurde, verstand Wolfgang nicht, dass etwas mehr Verständnis und weniger Dickköpfigkeit seinerseits angebracht gewesen wären. Nur weil ihm die korrekte Rechtschreibung so wichtig war, musste es noch lange nicht heißen, dass sie für seinen Sohn wichtig war. Wolfgang war halt Lehrer. An einem Oberstufenzentrum unterrichtete er Deutsch, Betriebswirtschaft, Politik. Streng war er, aber engagiert und immer an der Seite der Schüler. Das merkten sie und schätzten ihn. Er organisierte Gespräche mit Politikern und versuchte so, den Funken des politischen Diskurses zu entfachen.

Ein uraltes Haus mit meterdicken Wänden

2007 starb Erika, viel zu früh. Nun gab es nur noch Wolfgang und seinen Sohn in dem schönen Haus mit den drei Etagen, dem Garten. Der Vater lernte, seinem Sohn mit mehr Verständnis zu begegnen. Der Sohn blieb noch viele Jahre, seine Freundin kam noch dazu, dann ein Enkelsohn.

Wolfgang begann noch ein Philosophiestudium, schrieb gewissenhaft seine Hausarbeiten und bereitete seine Referate vor. Bis er, nach sieben Jahren, den neuen Anfang wagte und auf die Anzeige antworte. Schnell war ihm klar, dass Margret bei ihm einziehen sollte. Sie sagte ja, aber nur, wenn sie das Haus neu organisieren und aufteilen würden. Also trug Wolfgang seine vielen tausend Bücher, die Marx-Sammlung, die Hegel-Werke, die Diskurs-Hefte in den zweiten Stock. Im ersten Stock hatte Margret ihr Reich. Hier stand ein Klavier, an dem sie übte. Er machte es sich dann im Sessel gemütlich und hörte ihr zu. Im Erdgeschoss wärmte ein Holzofen, wenn Margret noch mit Freundinnen unterwegs war, saß er hier, las ein Buch, trank ein Glas Wein und wusste, dass Margret gleich kommen und sie ein zweites Glas zusammen trinken würden.

Wenn Margret von Kurzreisen in die Stadt zurückkehrte, stand er am Bahnhof, breitete lächelnd seine Arme aus und lief auf sie zu. Samstagvormittags überlegten sie, was sie am Nachmittag kochen sollten. Am liebsten Französisch, denn ein kleines Städtchen in Südfrankreich war seine Wahlheimat, sein absoluter Lieblingsort. Hier besaß er ein uraltes Haus mit meterdicken Mauern. Im Hintergrund ragt das Schloss auf. Manchmal war er mit Margret nur ein paar Wochen da, manchmal blieb er ein paar Monate länger. Auf dem Markt kannte er viele, hielt Schwätzchen und wurde zum Essen eingeladen oder er lud selber ein. Dann saßen sie an einer großen Tafel, Jung und Alt, tranken Wein, aßen Käse und genossen das Leben.

Wolfgang litt an Multisystematrophie, einer neurologischen Erkrankung. Er schaffte vieles nicht mehr, konnte oder wollte das aber nicht einsehen. An diesem Samstag, Margret war gerade auf dem Markt, um fürs gemeinsame Essen einzukaufen, wollte er zu seinen Büchern, konnte nicht auf Margret warten, stieg alleine die Treppe hinauf und stürzte. Wolfgangs Leben endete im März dieses Jahres.

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