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Eine Erde, viele Welten.

© Getty Images/iStockphoto

Russland, Ukraine und die internationale Gemeinschaft: Nur die halbe Welt ist gegen den Krieg

Der Westen und das gesamte demokratische Lager müssen die Gründe dafür suchen, dass viele Länder ihnen nicht folgen – und Konsequenzen ziehen. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Jörg Rocholl

Jörg Rocholl ist Präsident der European School of Management and Technology Berlin und stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium.

Nie war der Westen so einig, entschlossen und tatkräftig wie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Diese Haltung hat nicht nur Präsident Wladimir Putin überrascht, sondern auch den Westen. Das demokratische Lager, so scheint es, hat Frieden mit sich selbst geschlossen – aber gilt das auch im globalen Kontext?

Der erste Blick spricht dafür. In der Uno-Vollversammlung forderten Anfang März 141 Staaten Russland auf, den Krieg sofort zu beenden. Fünf Länder um Russland und seine Vasallen stimmten dagegen. 35 Staaten enthielten sich, darunter Schwergewichte wie China und Indien. Diese 35 Staaten repräsentieren fast die Hälfte der globalen Bevölkerung, knapp 50 Prozent der Weltbevölkerung lebt also in Staaten, die sich nicht klar vom Krieg distanzieren.

Diese Tatsache wirft zentrale Fragen auf: Welche tiefergehenden wirtschaftlichen und politischen Gründe verhindern es, dass noch mehr Staaten den Krieg in der Ukraine verurteilen? Muss der Westen sich selbst den Spiegel vorhalten und eine globalere Perspektive einnehmen?

Dieser Text erscheint im Rahmen der Reihe Global Challenges. Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Regelmäßige Autoren und Autorinnen neben Werner Hoyer sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Jürgen Trittin, Werner Hoyer, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Gerade kleinere Länder fühlen sich von Russland unter Druck gesetzt und brachten deshalb nicht den Mut auf, die Invasion zu verurteilen. Sie fürchten vor allem, Moskau könne ihnen militärische Hilfe entziehen. Andere Staaten enthielten sich, weil sie keine Verschlechterung ihrer Handelsbeziehungen zu China riskieren wollen. Das dürften die entscheidenden Aspekte sein, warum fast die Hälfte der afrikanischen Staaten sich nicht gegen den Krieg stellte.

Für andere, dem Westen zugehörige oder zumindest grundsätzlich freundlicher gesinnte Länder standen bei ihrer Enthaltung strategische Vorteile der Zusammenarbeit mit Russland im Vordergrund. Man denke etwa an Israel und seine Sicherheitsinteressen in Syrien. Oder an Indien, das auf Waffenkäufe aus Russland angewiesen ist, um sich gegen China und Pakistan zu schützen.

Für Indien in billiges Öl aus Russland ein Schmiermittel

Für Indien kommt hinzu, dass es mögliche Einschränkungen bei Ölimporten und etwaige Preisanstiege anders als die reichen Industriestaaten weit weniger gut verkraften könnte, stattdessen drohten dem Subkontinent wirtschaftliche und politische Krisen. Aus Neu Delhis Sicht ist billiges russisches Öl ein besonders attraktives Schmiermittel.

Hinzu kommt: Viele der 35 Staaten ziehen auch die moralische Glaubwürdigkeit des Westens in Zweifel. So kritisieren afrikanische Länder ihre unzureichende Versorgung mit Impfstoffen gegen Covid-19. Trotz entgegengesetzter Zusagen falle die Besorgung von Vakzinen überwiegend auf Afrika selbst zurück. Andere Staaten wie Pakistan kritisieren den Umgang des demokratischen Lagers mit Afghanistan: Sie sprechen von einer „Doppelmoral“ des Westens und weisen auf die gegenwärtige Hungerkatastrophe im Land hin. Die Bilder vom überstürzten, chaotischen Abzug der westlichen Truppen 2021 sind hier in frische Erinnerung.

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Die Lage in der Ukraine sorgt daher im Extremfall sogar für heimliche Genugtuung, weil der Westen einmal selbst erlebe, was er sonst anderswo anrichte. Zusammengefasst präsentiert sich die Lage so: Nord- und Südamerika stellen sich genauso gegen die russische Invasion wie Europa und Australien, während die Hälfte Afrikas und die bevölkerungsreichsten Staaten Asiens mit Ausnahme Japans sich enthalten.

Nun könnte man einwenden, eine Abstimmung in der UN-Vollversammlung sei kein Maßstab für die grundsätzliche Haltung eines Staates. Außerdem könnte man in Erinnerung rufen, dass manche Staaten selbst im Zweiten Weltkrieg und im bald darauf folgenden Kalten Krieg es vermieden, sich auf die eine oder andere Seite der Konfliktmächte zu schlagen. Das enthebt uns aber nicht der Verpflichtung, für ein besseres globales Verständnis einzutreten, und zwar mit konkreten Schritten.

Augenhöhe wird nicht durch Kleiderspenden hergestellt So ist insbesondere mit Blick auf Afrika die Frage einer gerechten Impfstoffverteilung aktueller und relevanter denn je. Ursprüngliche Versprechen des Westens müssen unbedingt eingehalten und wirksame Impfkampagnen vor Ort unterstützt werden. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage nach einer echten ökonomischer Partnerschaften neu. Die oft beschworene „gleiche Augenhöhe“ zwischen den Kontinenten kann kaum durch Kleiderspenden oder Impfstoffe hergestellt werden, die in Europa nicht anerkannt sind. Es geht vielmehr um nichts Geringeres als einen wirklich fairen und nachhaltigen ökonomischen Austausch, vor allem von Agrargütern.

Auch müssen internationale Handelsabkommen endlich vorangebracht werden. Die vier Jahre der Präsidentschaft von Donald Trump haben gezeigt, wie fragil selbst vermeintlich stabile Bindungen werden können. Das lehrt: Es ist notwendig, in Zeiten guter Beziehungen vertragliche Bindungen zu festigen und verstetigen. Damit beugt man schlechteren Zeiten vor. Diese Erkenntnis gilt nicht nur für das Verhältnis Europas zu den USA, sondern überall.

Donald Trump hat gezeigt, wie fragil Abkommen sind.

© AFP

In Europa muss zudem die Integration der Märkte vertieft werden. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs gilt das besonders für die Energiemärkte. Weitere Sanktionen gegen Russland stoßen in der EU regelmäßig dort an ihre Grenzen, wo einzelne Staaten massive Verluste zu erwarten haben – Ungarn etwa bei einem Ölboykott, Deutschland und Italien bei einem Gas-Embargo. Ein integriertes europäisches System und eine enge Zusammenarbeit könnten diese Abhängigkeiten verringern und automatisch die außenpolitische Gestaltungskraft der EU erhöhen. Europäische Verhandlungsmacht statt Einzelabkommen würden auch für günstigere Preise bei der Energieversorgung sorgen.

Daueranliegen nicht Krisenthema

Letztlich muss Europa sich eine globalere Perspektive aneignen. Der intensive Austausch mit aufstrebenden Mächten rund um den Globus muss zum Daueranliegen werden, er darf nicht länger auf Krisendiplomatie beschränkt bleiben. Europa hat nicht nur wirtschaftlichen Wohlstand zu bieten, sondern auch ein Lebensmodell, das anders als in Russland nicht durch staatlichen Zwang begründet ist.

Aus globaler Perspektive sollte Europa Kriege und Konflikte, unabhängig von der geografischen Nähe, evaluieren. Das jetzige Sanktionsregime gegen Russland muss dem Anspruch genügen, weltweit als Blaupause für vergleichbare Konflikte zu dienen. So könnte Europa Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, die für die Lösung künftiger Konflikte von ebenso großem Wert ist wie für den wirtschaftlichen Austausch mit anderen Teilen der Welt.

Die Reaktion des Westens auf die russische Invasion in der Ukraine lässt hoffen, dass die Zusammenarbeit der beteiligten Staaten erweitert und vertieft werden kann. Zugleich signalisieren die 35 Enthaltungen in der UN-Vollversammlung aber, dass der Westen seine „Blase“ verlassen muss, um dauerhaft Unterstützung in allen Teilen der Welt zu erhalten. Ein neues glaubwürdiges Narrativ des demokratischen Lagers und dessen praktische Umsetzung sind notwendig – ein ambitioniertes Ziel, das der Westen besser heute als morgen in den Blick nehmen sollte.

Jörg Rocholl

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