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Gottesdienst in der St.-Clemens-Kirche in Berlin-Kreuzberg.

© David Heerde für den Tagesspiegel

St. Clemens in Kreuzberg: In Berlin steht das wohl ungewöhnlichste katholische Gotteshaus Deutschlands

Die St.-Clemens-Gemeinde versteht sich als religiöses Zentrum fernab von bürgerlicher Behäbigkeit. Die Kirche ist rund um die Uhr offen. Ein Besuch.

Als er Gott am meisten brauchte, war Jan-Philipp Görtz 30 Jahre alt. Er hatte einen guten Job bei der Lufthansa, in der Abteilung für Internationale und Regierungsbeziehungen, 70 Anzüge im Schrank, war mit einem dänischen Model liiert und flog dank Firmenrabatt jedes Wochenende in eine andere schicke Metropole.

Als die Beziehung abrupt zu Ende ging, fiel der Überflieger tief. „Ich war so stolz und hochmütig, dass ich mit dieser Zurückweisung nicht umgehen konnte“, sagt Görtz heute. Inzwischen ist er 52 Jahre alt. „Mein Leben war auf Leistung und Ansehen gebaut, und ich hatte große Angst, dass meine Freunde mich verspotten würden: ‘Du bist doch nicht gut genug.’“

Der Jurist fuhr in sein Büro in Brüssel, brach dort fast zusammen und erlebte, wie er sagt, 15 schwarze Minuten, in denen er begriff, wie allein er wirklich war. „In diesem Augenblick hat Jesus gesagt: ‘Ich bin noch da’, und er hat mich an sich gezogen.“ Görtz ist schon katholisch aufgewachsen, dennoch hat er diesen Moment in Erinnerung, der ihn in seinem Glauben gefestigt hat.

Am Palmsonntag fand in St. Clemens eine besondere Gebetsnacht statt.

© David Heerde für den Tagesspiegel

Nicht zuletzt deshalb steht er an einem Samstagabend Anfang April, der Nacht vor Palmsonntag, im Hof der St. Clemens-Kirche in Kreuzberg. Während rings herum die Touristen in die Restaurants und Theater am Potsdamer Platz strömen, freut er sich auf die Nachtvigil – eine etwa dreistündige Gebetsnacht mit katholischem Ritus, samt Messe, Marienprozession und Rosenkranz.

Menschen aus über 60 Ländern besuchen St. Clemens

Die heiligen Hallen in einem Hinterhof am Anhalter Bahnhof sind das vermutlich ungewöhnlichste katholische Gotteshaus Deutschlands. Statt bürgerlicher Behäbigkeit und biodeutscher Leitkultur versteht sich St. Clemens als religiöses Zentrum. Eine Art Fest-, Vortrags- und Gebetsort, der rund um die Uhr offen hat.

Die Gemeinschaft setzt sich nicht aus Anwohnern zusammen, sondern St. Clemens lockt eine multilinguale Community aus ganz Berlin an. Sie beherbergt Menschen aus rund 60 Ländern, darunter Vietnamesen, Kameruner, Kenianer, Kroaten, Italiener oder Kolumbianer, alles unter der Leitung indischer Ordensbrüder, den Vinzentinern.

Gottesdienst in der St.-Clemens-Kirche in Berlin Kreuzberg.

© David Heerde für den Tagesspiegel

Einer von ihnen, Pater Mathew Kakkattupillil, ist eine Art Star der Bruderschaft. Nach langer Tätigkeit in Berlin wurde er 2016 zum Provinzial des Ordens gewählt, also zum Vorsteher, der seinen Hauptsitz im indischen Kerala hat. Der begnadete Prediger empfängt die Besucherinnen an diesem regnerischen Samstagabend auf dem Hof des Gebäudes.

Weil am Folgetag Palmsonntag ist, der die Karwoche vor Ostern einläutet, verteilen einige Ministranten in rot-weißen Gewändern Palmzweige an die Umstehenden, während Pater Mathew mit Pater Joseph, der das Zentrum aktuell leitet, zusammen mit den Gläubigen das Hosianna singt.

Jan-Philipp Görtz steht inmitten der ausgelassenen, singenden Menge. Er ist heute Teil des Vorstands von St. Clemens und wird später, wenn die Gemeinde zur Messe in die Kirche umzieht, aus dem Evangelium vorlesen, vielleicht hat er sich auch deshalb extra schick gemacht mit einem braunen Wollanzug. Andere bedecken ihren Kopf mit einem Turban, sind in indigene Tücher gewickelt oder beten in Jeans. Zweimal im Jahr erscheinen alle in ihrer Herkunftstracht, dann soll die Gemeinde besonders bunt leuchten.

Partytouristen spazieren an den Gläubigen vorbei

Während die Gläubigen im Hof singen, quetschen sich am Rand hinter den Fahrradständern junge Leute mit Koffern, Kippen und Partyoutfit an ihnen vorbei. An die Kirche grenzt ein Hostel. Es ist heute in Privatbesitz, ist geschichtlich aber eng mit der St. Clemens Kirche verbunden.

Denn Kirche und Hostel wurden im Jahre 1910 vom späteren Bischof von Münster, dem seliggesprochenen Clemens August Kardinal von Galen erbaut. Er wollte damit Wandergesellen und Handwerkern einen Ort der Ruhe schenken, umgeben von Kasinos und Kneipen, die damals am wilden Potsdamer Platz dominierten.

Als einer der wenigen trat der bedeutende Kardinal später entschieden gegen das Handeln der Nationalsozialisten ein und wurde vor allem für seinen Kampf gegen die Euthanasie berühmt. Auch deshalb waren viele Berliner bestürzt, als das Erzbistum Berlin 2006 beschloss, das Gebäude zu verkaufen. Damals befand sich die katholische Kirche in Berlin in einer Finanzkrise und musste viele Immobilien veräußern.

Jan-Philipp Görtz wurde bei einem Besuch der St. Hedwigs-Kathedrale in Mitte auf diese Situation aufmerksam gemacht. Die Geschichte bewegte ihn, es war sein erster Berührungspunkt mit St. Clemens. Zusammen mit sechs anderen gründete er einen Verein, der innerhalb weniger Monate mehrere Millionen Euro aufbrauchte, um die Immobilie zurückzukaufen.

Viele leben in St. Clemens den Glauben so wie Fußballfans ein Spiel ihres Lieblingsvereins: tränenreich, lautstark und ständig in Bewegung. 

© David Heerde für den Tagesspiegel

Doch in letzter Minute ging der Zuschlag an einen anderen Investor. Nach einigem Hin und Her erwarb der Berliner Geschäftsmann Enver Büyükarslan die Immobilie Ende 2006 für mehrere Millionen Euro. Er selbst ist gläubiger Muslim, sorgt sich aber um das Fortbestehen des historischen Gebäudes und es seitdem in harmonischem Einverständnis an den Verein. St. Clemens ist komplett spendenfinanziert und bezieht keine Einnahmen aus der Kirchensteuer. Die Hoheit über die Programmgestaltung und die Seelsorge liegt bei den indischen Geistlichen.

Nach der Messfeier beten und singen die Gläubigen mit einer Kerze in der Hand.

© David Heerde für den Tagesspiegel

Es ist schwer zu beurteilen, wie das Zentrum gesellschaftspolitisch zu verorten ist, die Besucher sind divers. Jan-Philipp Görtz glaubt nicht an einen Erfolg der Reformbewegung, die sich nach den Missbrauchsskandalen innerhalb katholischer Institutionen unter anderem mit der Abschaffung des für Priester verpflichtenden Zölibats beschäftigt. Auch über die Segnung von homosexuellen Ehen oder den Klimawandel ließe sich am Tresen einer der nahegelegenen Bars in Kreuzberg wohl mit ihm diskutieren.

Doch wer nur die Worte hört, die an diesem Samstagabend in ein Mikrofon gesprochen oder gesungen werden, kann eine spirituelle Erfahrung machen, die von Diskursen unabhängig ist und sich auf die eigene Innenansicht konzentriert. Die Musik setzt eher auf Balkanklänge und afrikanische Beats als auf Orgelstil, mal bewegend, mal meditativ. Pater Matthew predigt englisch und erzählt eine popkulturelle Anekdote vom Set der blutigen Kreuzwegverfilmung des Regisseurs Mel Gibson.

Nach der Messfeier werden die Lichter gedämmt und die Gläubigen bekommen eine Kerze in die Hand. Unter der Anleitung von Pater Matthew und mit Unterstützung einer Band beten und singen sich die Menschen der St. Clemens-Community in euphorische Stimmung. Auch Jan-Philipp Görtz ist mit vollem Körpereinsatz dabei. Er und viele andere hier leben den Glauben so wie Fußballfans ein Spiel ihres Lieblingsvereins: tränenreich, lautstark und ständig in Bewegung.

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