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Gewalt, ausgeübt von Angehörigen und Personal, gehört zu den schlimmsten Auswüchsen.

© Getty Images/Westend61

Die brutale Seite des Pflegenotstands: Hubert, 77, tötet seine große Liebe, Ilse, 78

Er pflegte sie, doch eines Morgens kam er gegen ihre Demenz, Wut und Inkontinenz nicht mehr an. Sein Anwalt sagt, er wurde Opfer „eines ungenügenden Systems“.

Ganz still liegt seine Frau da, als Hubert Schuster, 77 Jahre alt, das Kissen von ihrem Gesicht nimmt. Es ist ein Dienstag Ende Mai, kurz nach 8 Uhr, draußen beginnt ein neuer Tag, Türen schlagen, Autos starten. Das Leben vorm Balkon kannten die Schusters schon lange nur noch vom Hörensagen. Der alte Herr geht durch das Wohnzimmer – wo er auf dem Tisch sorgfältig die Papiere, seine Abschiedsbriefe und Schlüssel ausgelegt hat – auf den Balkon, klettert auf die Brüstung und springt.

Herr Schuster ist Opfer des völlig ungenügenden Systems geworden.

Roland Weber, Verteidiger

Als er wieder zu sich kommt, blickt er in ein fremdes Gesicht. „Bin ich tot?“, fragt Hubert Schuster, lebensgefährlich verletzt, den Feuerwehrmann. Ein Straßenbaum hat seinen Sturz abgefangen.

Jetzt wartet er auf seinen Prozess. Voraussichtlich noch in diesem Jahr wird sich Hubert Schuster (alle Namen von Opfern und Tätern wurden geändert) im Berliner Landgericht verantworten müssen, weil er seine 78-jährige Ehefrau getötet hat: Ilse, die, wie es in der Familie heißt, die Liebe seines Lebens gewesen sei. Die Frau, die er so viele Jahre gepflegt hatte, bis er gegen ihr Magenleiden, ihre Demenz, ihre Wut und Inkontinenz, nicht mehr ankam. Die Hoffnung, Hilfe von der Krankenkasse geschickt zu bekommen, war Hubert Schuster in den Warteschleifen der Servicenummern abhandengekommen.

120.000
Pflegebedürftige gibt es in Berlin

Auch wenn es in Deutschland zu den größten Tabus gehört, wissen Experten längst: Gewalt, ausgeübt von Angehörigen und Personal, gehört zu den schlimmsten Auswüchsen des Pflegedesasters. „Diverse nationale und internationale Studien weisen darauf hin, dass Misshandlung und Vernachlässigung in der Pflege auch in schwersten Formen – bis hin zum tödlichen Ausgang – weitverbreitet sind“, sagt Kriminaloberrat Daniel Hiltmann, der im LKA die Abteilung Delikte am Menschen leitet.

Verdacht. Kriminaloberrat Daniel Hiltmann vom Berliner Landeskriminalamt geht davon aus, dass Misshandlung und Vernachlässigung in der Pflege weitverbreitet sind.

© Tagesspiegel/Doris Spiekermann-Klaas

In Berlin gibt es derzeit 120.000 Pflegebedürftige und 250.000 pflegende Angehörige. Im Schnitt werden Bedürftige zehn Jahre lang zu Hause gepflegt. Gegen wie viele Pflegende jedes Jahr ermittelt wird, nachdem sie die Kraft, die Geduld oder der Anstand verlassen hat, kann nur geschätzt werden, da es deutschlandweit keine einheitliche statistische Erfassung gibt.

Die Polizei könne „im gesamten Phänomenbereich der Gewalt in der Pflege“ keine validen Zahlen liefern, sagt Hiltmann. „Es muss davon ausgegangen werden, dass es ein ausgesprochen großes Dunkelfeld gibt, welches in der häuslichen Pflege noch ausgeprägter ist als im Bereich von Pflegeeinrichtungen.“

Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Katrin Faust, Oberstaatsanwältin

Dass aus der häuslichen Pflege nur ein Bruchteil der Fälle bekannt wird, liegt einerseits daran, dass die Opfer Schuld und Scham fühlen, fürchten, mit einer Anzeige alles noch schlimmer zu machen oder ins Heim abgeschoben zu werden. Andererseits scheiden Alzheimer- oder Demenzerkrankte für die Ermittler als Quelle der Erkenntnis oder einzige Hauptbelastungszeugen aus. Um die Schwächsten besser zu schützen, sei das Strafrecht oftmals nicht der richtige Hebel, sagt Oberstaatsanwältin Katrin Faust. Die Täter seien in der Regel schlicht überfordert. Nicht durch Strafandrohung, sondern mit Hilfsangeboten müssten die Übergriffe verhindert werden. „Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“

Hilfe statt Strafandrohung. Um die Schwächsten besser zu schützen, sei das Strafrecht oftmals nicht der richtige Hebel, sagt Oberstaatsanwältin Katrin Faust. Die Täter seien in der Regel schlicht überfordert. Foto: Doris Spiekermann-Klaas

© Doris Spiekermann-Klaas

Es sind Fälle wie der der Schusters, bei denen sich die Beteiligten fragen, wem am Ende durch eine Haftstrafe geholfen wäre. Roland Weber, in Berlin bekannt als Opferanwalt, tritt in dem Verfahren ausnahmsweise als Verteidiger auf und hofft, seinem Mandanten das Gefängnis ersparen zu können. „Herr Schuster ist Opfer eines völlig ungenügenden Systems geworden“, sagt Weber.

Wir müssen von einem ausgesprochen großem Dunkelfeld ausgehen.

Daniel Hiltmann, Kriminaloberrat

Herr Schuster ist längst nicht das einzige Opfer, das das System zum Täter werden ließ: Zu sieben Jahren Haft hat das Berliner Landgericht im Juni 2021 Uwe Peters, 84 Jahre alt, verurteilt. Er hatte seine pflegebedürftige 93-jährige Frau nach mehr als 50 gemeinsamen Ehejahren getötet.

An seiner Seite. Roland Weber wird den 77-jährigen Angeklagten vor Gericht verteidigen. Er hofft, seinem Mandanten eine Haftstrafe ersparen zu können. Foto: Doris Spiekermann-Klaas

© Tagesspiegel/Doris Spiekermann-Klaas

Zu dem Verbrechen sei es nicht aus Hass oder Verdruss gekommen, hieß es im Urteil. Für den Angeklagten, der immer mehr zum Versorger seiner geliebten Frau geworden war, sei es „schlichtweg der einzige Ausweg gewesen“, nachdem bei ihm ein Tumor mit Verdacht auf Krebs festgestellt worden sei.

Die Frau hatte Hilfe durch Dritte abgelehnt. Als seine Frau am frühen Morgen des 6. Januar 2021 im Bett lag und wieder einmal leise weinte, habe es, wie er in seinem Geständnis sagte: „Klick gemacht“. Er sei aufgestanden, habe einen Hammer geholt und sie mit 30 Schlägen auf Kopf und Gesicht getötet. „Ich wollte, dass das Weinen aufhört.“ Nach der Tat versuchte er sich die Pulsadern aufzuschneiden. Stunden später rief er die Polizei.

Verschärft wird das Pflegedesaster durch einen eklatanten Fachkräftemangel. Umfragen zeigen, dass fast alle Pfleger und Pflegerinnen ihren Beruf aus selbstlosen Beweggründen ergriffen haben. Nur wird der Wunsch zu helfen, im Alltag oft zerrieben, wenn die schlecht entlohnte Arbeit kaum zu schaffen ist. In stationären Einrichtungen räumten bis zu zwei Drittel aller Pflegekräfte bei anonymen Befragungen ein, in den letzten zwölf Monaten mindestens ein Mal einen Patienten misshandelt oder vernachlässigt zu haben.

Über 60 %
der Pflegekräfte geben Versäumnisse zu

Über unhaltbare Zustände in einem Neuköllner Heim sagt auch einer der Pfleger aus, der im Januar 2019 als Zeuge vors Berliner Landgericht geladen ist. Auf der Anklagebank sitzt: Horst Otto, 80 Jahre, Metallgießer, des Mordes angeklagt.

Seit vielen Jahren nach einem Hirninfarkt auf Rollator und Herzschrittmacher angewiesen, bringt ihn 2017 eine Leberzirrhose ins Heim. Als Folge des Hirninfarkts leidet er unter einer Persönlichkeitsstörung, die ihren Ausdruck in wechselnden Gemütszuständen findet: Otto ist oft missgestimmt, gereizt, aggressiv.

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Im Heim teilt er sich ein Zimmer mit dem damals 77-jährigen Anton Kastner. Der Patient ist hochgradig dement, kann auf Fragen nur noch mit einzelnen Worten antworten. Seit einem Schlaganfall leidet Kastner an Schluckbeschwerden, sodass er auch in der Nacht ständig husten und sich räuspern muss. Wenn er von den Pflegern gefüttert wird, kommt es immer wieder zu ständigen Hustenanfällen.

Otto findet nachts oft keinen Schlaf. Mehrfach bittet er darum, in ein anderes Zimmer verlegt zu werden. Vergeblich. Zwei Wochen vor der Tat bekommt Kastner neue Pfleger, die sich offenbar noch weniger Zeit lassen, den Patienten zu füttern. Otto hat den Eindruck, dass sie seinem Bettnachbarn die Portionen viel zu schnell in den Mund schaufeln, sodass der nicht mehr kauen kann, sich verschluckt und nun nachts noch heftiger husten muss.

Otto findet nachts weniger Schlaf. Wieder wird er bei der Heimleitung vorstellig – und vertröstet.

Am Morgen des 31. Juli 2018 tritt er gegen 3 Uhr ans Bett seines Zimmernachbarn, legt ihm den Gürtel seines Bademantels um den Hals und zieht zu. Danach legt er sich in sein Bett und schläft bis zum Wecken durch. Das Landgericht verurteilt Horst Otto wegen Totschlags zu viereinhalb Jahren Haft. Der 80-Jährige wird in den offenen Vollzug verlegt.

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