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Zwischen 1961 und 1973 wird der Reichstag nach Plänen von Paul Baumgarten wieder aufgebaut, genutzt wurde er allerdings kaum. Bundestagssitzungen waren nach dem Viermächteabkommen von 1971 in Berlin ohnehin nicht zulässig. Nur Fraktions- und Ausschusssitzungen durften im Berliner Reichstag stattfinden. Trotzdem war im Zentrum des Gebäudes ein vollständiger Tagungssaal eingerichtet, der jederzeit den Abgeordneten eines wiedervereinigten Deutschlands hätte Platz bieten können. Auf dem Foto sind der Reichstag und das Brandenburger Tor in den 60er Jahren zu sehen.

© Gerhard Leber/imago

1968 im Tagesspiegel: Bundestag begann Arbeitswoche in Berlin und bekräftigt Recht auf Berlin-Sitzung

Vor 50 Jahren fanden Fraktions- und Ausschuss-Sitzungen im Reichstag statt

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 5. März 1968 wurde über die parlamentarische Arbeitswoche des Bundestages in Berlin berichtet.

Zum Auftakt der parlamentarischen Arbeitswoche in Berlin haben gestern die Fraktionsvorstände der CDU/CSU und der FDP das Recht des Deutschen Bundestages bekräftigt, jederzeit und ungehindert in Berlin zusammenzukommen. Die Fraktionsvorsitzenden Barzel (CDU/CSU) und Mischnick (FDP) wiesen östliche Proteste gegen die angeblich "provokatorischen Tagungen" des Bundestages in Berlin entschieden zurück.

Der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin, Abrassimow, hat am Montagabend in einer neuen Erklärung gegen die Bundestags-Arbeitswoche protestiert und erklärt: "Wenn die Regierung der Bundesrepublik in West-Berlin Provokationen organisiert, übernimmt sie die volle Verantwortung für die eventuellen unerwünschten Folgen dieser Handlungsweise."

CDU/CSU und FDP bekräftigen Recht auf Berlin-Sitzung

Barzel erklärte: "Wir tagen hier in Berlin im Deutschen Reichstag als frei gewählte Abgeordnete des deutschen Volkes. Aus unserem Fenster können wir die Mauer sehen, jenes Zeichen der Gewalt, das zugleich die Verletzung des internationalen Rechts durch die Verantwortlichen in Ost-Berlin manifestiert. Was wir hier tun, ist im Einklang mit den internationalen Abmachungen." Die Erklärung Barzels wurde vom Fraktionsvorstand unter großem Beifall einstimmig gebilligt.

Vor dem Vorstand der oppositionellen FDP betonte Mischnick, die Sitzungen des Bundestages und seiner Gremien in Berlin richteten sich gegen niemanden. "Sie sind vielmehr die Wahrnehmung eines international anerkannten und von der Regierung der DDR in früheren Jahren nicht nur respektierten, sondern sogar begrüßten Rechts." Mischnick erinnerte in diesem Zusammenhang an die Grußtelegramme, die den Mitgliedern des deutschen Bundestages bei der ersten Sitzung in West-Berlin von Ost-Berlin zugegangen waren.

 400 Abgeordnete erwartet

Die Mehrzahl der Bundestagsabgeordneten und der Bundesminister traf gestern in Berlin ein. Insgesamt werden zu den parlamentarischen Beratungen in Berlin etwa 400 Abgeordnete erwartet.

An der Sitzung des CDU/CSU-Fraktionsvorstandes, mit der die Arbeitswoche eingeleitet wurde, nahmen auch Bundestagspräsident Gerstenmaier sowie die Minister Lücke, Heck, Höcherl, Schmücker und Schröder teil. Nach einem kurzen Bericht Barzels zur "politischen Lage“ befaßte sich der Vorstand mit dem "Grünen Bericht" der Landwirtschaft und mit der geplanten Erklärung des Bundeskanzlers am 13. März zur Lage der Nation. Die gleichen Themen stehen auch heute in der ganztägigen Sitzung der CDU/CSU-Fraktion auf der Tages Ordnung. Bundeskanzler Kiesinger trifft am Vormittag, aus Stuttgart kommend, in Berlin ein und wird unmittelbar vom Flughafen aus zur CDU/CSU-Fraktionssitzung im Hotel Kempinski fahren.

Auch, der Vorstand der oppositionellen FDP-Fraktion befaßte sich in seiner Berliner Sitzung mit dem Grünen Bericht zur Lage der Landwirtschaft und mit der Erklärung Kiesingers zur Lage der Nation. Außerdem wurde eine kurze politische Analyse vorgenommen.

Der SPD-Fraktionsvorstand tritt heute zusammen. Am Nachmittag wird vor der Gesamtfraktion der SPD der Regierende Bürgermeister Schütz über die politische Situation in Berlin berichten. Die SPD kann zum erstenmal in ihrem neuen Fraktionssaal im Reichstagsgebäude tagen.

Öffentliche Anhörungen

In öffentlichen Anhörungen wird der Bundestagsausschuß für Arbeit am Mittwoch, Donnerstag und Freitag in der Kongreßhalle, Saal K 1 (Beginn jeweils 9 Uhr 30), Sachverständige 2U dem vom Bundesarbeitsministerium ausgearbeiteten Entwurf eines Arbeitsförderungsgesetzes und dem SPD-Entwurf eines Arbeitsmarkt-Anpassungsgesetzes hören. Im Mittel- punkt beider Gesetzentwürfe steht die Förderung der beruflichen Bildung, Fortbildung und Umschulung sowie eine größere Mobilität der Arbeitskräfte.

Der Verkehrsausschuß des Bundestages wird am Donnerstag um 9 Uhr. in der Ausstellungshalle der Kongreßhalle elf Gutachter zum verkehrspolitischen Programm der Bundesregierung, dem Leber-Plan, in einer öffentlichen Sitzung hören.

Neuer Protest der Sowjets

In dem neuen Protest Abrassimows heißt es weiter, die "widerrechtlichen Handlungen der herrschenden Kreise der Bundesrepublik in West-Berlin zu übersehen, hieße, sie zu weiteren revanchistischen Anschlägen zu ermuntern"

In der von der Zonen-Agentur APN am späten Abend verbreiteten Erklärung des Botschafters hieß es, die "Parlamentswoche" habe mit einer normalen Parlaments- und Staatstätigkeit nichts gemein", da sie "weit außerhalb der Grenzen der BRD" stattfinde. Deshalb sei darin eine "neue revanchistische Demonstration der herrschenden Kreise der BRD, ein neuer widerrechtlicher Versuch, die Hand auf West-Berlin zu legen" zu sehen. "Die widerrechtlichen Handlungen hören durch ihre Wiederholung nicht auf, widerrechtlich zu sein. Das müssen auch die einsehen, die eine Provokation nach der anderen in West-Berlin anzetteln." 

"Die Anschläge" der Regierung auf West-Berlin enthüllen nach Meinung Abrassimows „ein weiteres Mal das Wesen ihrer großsprecherischen neuen Ostpolitik". "In Worten" sei die Regierung der Bundesrepublik für die Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn, "in Wirklichkeit dagegen sucht sie deren Rechte und Interessen anzutasten und mißbraucht ihre Beziehungen zu West-Berlin".

 "DDR"-Sicherheitsinteressen berührt"

Das sowjetzonale Außenministerium hat am Sonntagabend in scharfer Form gegen die "Berliner Arbeitswoche des Bundestages protestiert, weil davon die „Sicherheitsinteressen der DDR" berührt und die europäische Sicherheit, gefährdet würden. Die "DDR" könne in Übereinstimmung mit ihren internationalen Verpflichtungen und ihrer auf die Sicherung des Friedens gerichteten Politik „an den verschärften Provokationen der Bonner Regierung und ihrer West-Berliner Helfershelfer nicht achtlos vorübergehen“ heißt es in der Erklärung.

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