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Ein Autor arbeitet an seiner Schreibmaschine an einem Manuskript.

© IMAGO/Panthermedia

Literatur als Breitensport: Warum will jeder zweite Deutsche ein Buch schreiben?

Die Hälfte aller Bundesbürger träumt von einem eigenen Schreibprojekt – auch unser Autor. Ist das noch kreative Selbstverwirklichung oder schon kollektive Geltungssucht?

Eine Glosse von Hannes Soltau

Seit Jahren schreit uns dieser eine Satz in Bahnhöfen und Haltestellen entgegen: „Schreib! Dein! Buch!“ Der Imperativ ist der dämliche Slogan eines Fernstudium-Anbieters – doch er scheint in der deutschen Seele zu fruchten. Kurz vor der Leipziger Buchmesse ergab eine repräsentative Umfrage, dass mittlerweile jeder zweite Bundesbürger davon träumt, ein eigenes Werk zu verfassen. Gnade uns Gott, wenn die Publikation von Büchern zum Breitensport wird.

Die Flut an Veröffentlichungen ist hierzulande trotz des Einbruchs der vergangenen Jahre kaum zu überblicken. 2021 kamen nach Angaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 71640 Titel neu auf den Markt. Knapp 200 pro Tag. Wer soll das lesen? Und das ist nur ein Bruchteil der Manuskripte, die Verlage und Agenturen täglich erreichen.

Der Verlag Kiepenheuer & Witsch kassierte jüngst einen Shitstorm, weil er sich auf TikTok über die Anschreiben selbstbewusster Autor:innen lustig machte. Kein feiner Zug, aber angesichts der „außerordentlich hohen Zahl täglicher Einsendungen“ wohl auch der Überforderung geschuldet.

Selbstverständlich ist es zu begrüßen, dass sich der Literaturbetrieb demokratisiert. In den vergangenen Jahren sind endlich mehr Autor:innen mit vielfältigeren biografischen Hintergründen zu Wort gekommen, die lange marginalisierte Perspektiven einbrachten. Sie haben etwas zu erzählen und können schreiben.

Deutsche lieben Ratgeber

Doch schaut man in die Rangliste der erfolgreichsten Bücher des vergangenen Jahres, schwant einem, was da in Zukunft auf uns zukommen könnte. Denn neben Krimis lieben die Deutschen vor allem Ratgeber zu Fitness und Gesundheit, Beziehungen und Dating, Erfolg und Produktivität.

Jeder halbwegs erfolgreiche Influencer darf heute ein Lebenshilfebuch verfassen, jeder B-Promi bekommt seine Autobiografie und jeder in die Jahre gekommene Musiker schreibt Romane. Kein Wunder, dass der Glaube vorherrscht, dass alle mal dran sind. Schließlich glauben wir auch, dank unseres Smartphones professionell fotografieren zu können.

Die sozialen Medien befeuern seit Jahren die Geltungssucht. Und weil Twitter dabei längst nicht mehr reicht, droht dem Literaturbetrieb, was dem Internet längst widerfahren ist: Eine Welt, in der viele Aufmerksamkeit wollen, aber die wenigsten etwas Substanzielles beizutragen haben.

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