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Distanzlos? Ein Jahr nach dem Fall von Kabul blickt der Film auch auf diejenigen, die besonders schutzbedürftig sind und in Afghanistan nicht bleiben können.

© RBB

Was aus Afghanistan wurde: Auf der Flucht

Eine ARD-Dokumentation hat Hilfsorganisationen zur Rettung Kabuler Ortskräfte begleitet.

Hanns Joachim Friedrichs war ein Großer der Medienbranche. Dass er zudem als Weiser gilt, lag nicht nur an Güte, Position oder dem schlohweißen Haar des „Tagesthemen“-Moderators, sondern seinem Berufsethos. Ein guter Journalist, sagte er, mache sich mit keiner Sache gemein, „auch nicht einer guten“. Das war 1995, Bill Clinton Präsident und Donald Trump Bankrotteur, der Klimawandel fern und Afghanistan ein zerrüttetes Land, aber keines unterm Steinzeitregime der Taliban. Selige Zeiten für Presseprinzipien. 27 Jahre später steht Donald Trump vor der zweiten Amtszeit, der Klimawandel ist real und Afghanistan so unangefochten in Taliban-Hand, dass sich Theresa Breuer mit einer guten Sache nicht nur gemein machen darf, sondern muss. „Ich habe mich in meinem Leben nie für irgendwas engagiert“, sagt die Journalistin in einer ARD-Dokumentation, „aber vielleicht kommt für jeden mal der Moment: Diese Sache ist mir wichtig, dafür setze ich mich ein.“

[„Afghanistan – Ein Jahr später. Mission Kabul-Luftbrücke“, vierteilige dokumentarische Serie, ab Freitag in der ARD-Mediathek, lineare Ausstrahlung Montag, ARD, 22 Uhr 20]

Ihr Moment kam vor einem Jahr. Also setzte sie sich ein: für Tausende der Ortskräfte und Künstlerinnen, Medienschaffende oder Menschenrechtsanwälte, die seit dem panikartigen Abzug westlicher Mächte aus Afghanistan in Todesgefahr schweben. Für sie haben Journalistinnen wie Theresa Breuer „Kabul-Luftbrücke“ gegründet – eine NGO, die das erledigt, was nach dem 15. August 2021 der Bundesregierung misslingt: Fluchtkorridore für jene zu schaffen, die im Wertesystem der Taliban als Verräter gelten. „Also jeder“, sagt die aktivistische Publizistin, „der mit dem Westen kooperiert hat.“

Monatelang hat Breuers Kollegin Vanessa Schlesier im Auftrag des RBB die Arbeit der Hilfsorganisation begleitet. Viermal 30 Minuten pendelt sie zwischen afghanischer und deutscher Hauptstadt, pakistanischer und hessischer Provinz. Resultat ist ein Zeugnis privater Initiative im Zeichen humanitären Staatsversagens, das zu Herzen geht, auch an Nieren und Hirn. Der Vierteiler beschränkt sich nicht darauf, tränenreich Einzelschicksale zu zeigen. Etwa Familie Walid.

Gut 1000 Menschen hat Kabul-Luftbrücke über die Grenze gebracht

Mal mit Breuers zitterndem Smartphone, meist mit Schlesiers ruhiger Handkamera begleiten wir Kabul- Luftbrücke dabei, wie sie die Verwandten einer Bundeswehr-Ortskraft evakuieren. Zu Beginn des zweiten Teils sitzen sie alle im Flugzeug nach Islamabad. Ein Riesenerfolg – mit symbolischer Wirkung. „Vorturnen, was möglich ist“, beschreibt Ruben Neugebauer die spendenfinanzierte Rettung von insgesamt 148 Flüchtenden.

Mit ihrem Charterflug wollte die Organisation dem populistischen Teil der abgewählten Bundesregierung jener Tage (Seehofer) empathischen Pragmatismus vorleben. Erst danach, so zeigen die nächsten drei Episoden, ging Neugebauers Arbeit richtig los. Gut 1000 Menschen hat Kabul-Luftbrücke bis Ende 2021 in Bussen über die Grenze gebracht. Eine dieser Odysseen über unbefestigte Straßen voll schwer bewaffneter Checkpoints filmen Breuer und Schlesier aus nächster Nähe.

Es geht um echte Menschen

Von Kabul über Torkham bis Berlin in zwei so ergreifenden wie erhellenden Stunden journalistischer Distanzlosigkeit – die dann manchmal auch ein wenig überhandnimmt. Allzu oft ist Theresa Breuer, deren Telegenität von jener ihres Mitarbeiters Sami noch übertroffen wird, im Bild. Als sie nach einer Dankesrede den Applaus der Geretteten erntet, gerät die Reportage da fast zum Fremdschämen. Am Ende aber folgt sie modernen Dokutainment-Regeln und vergisst nur selten, worum es geht: echte Menschen.

Mit deren Ängsten und Hoffnungen, ihrem Schmerz und Glück, lässt Vanessa Schlesier uns daher minutenlang allein. Immer wenn die Objekte eines mörderischen Regimes unkommentiert zu Subjekten ihrer beginnenden Zukunft werden, ist die Stille daher ohrenbetäubend. Dass Journalistinnen ihre Berichtsobjekte mitunter umarmen, wirkt demnach nicht distanzlos, sondern menschlich. Das hätte wohl sogar Hanns Joachim Friedrichs verstanden.

Jan Freitag

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