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Auf ins Stadion. Zu perfekt wirken diese vier liebenswürdigen Kerls, die angetreten sind, um Rock wieder Glaubwürdigkeit einzuhauchen.

© James Marcus Haney

Arte-Doku über die Band Coldplay: Böses Erwachen

Da wirken die Friedensbotschaft wie aus der Zeit gefallen. Die Arte-Doku über die Band Coldplay stellt ein Lebensgefühl in Frage.

Die britische Pophistorie ist voller märchenhafter Geschichten. Eine von ihnen erzählt Mat Whitecross. Schon in den 90er Jahren kannte der Dokumentarfilmer jene vier Jungs, die an einem Londoner College die Formation Coldplay gründeten. Von den Proben in einer Studentenbude über den ersten Plattenvertrag bis hin zu weltweiten Stadionkonzerten zeichnet sein Film den Weg einer Band nach, die sich treu blieb und ihren Fans dabei eine heile Welt vorlebte. Wenn man ihnen heute dabei heute zusieht, fühlt sich das irgendwie seltsam an. Doch der Reihe nach.

„Coldplay – A Head Full of Dreams“ lief vor knapp einem Jahr im ZDF. Warum den Film ausgerechnet jetzt noch einmal sehen? Ganz einfach, weil die Dokumentation indirekt vor Augen führt, wie die Mechanismen der Musikbranche funktionieren.

Pop ist ein Seismograf des Zeitgeistes. Erfolgreich in diesem Geschäft ist nur das, was vibrierende Stimmungen und Gefühle ausdrückt, die man schwer in Worte fassen kann – die aber mit unfehlbarer Gewissheit den Puls der Zeit widerspiegeln. („Coldplay – A Head Full of Dreams“, Freitag, Arte, 21 Uhr 45)

Mat Whitecross zeigt, warum gerade die Formation um den Sänger Chris Martin und den Gitarristen Jonny Buckland den Zeitgeist perfekt zu verkörpern schien. Sein Film beobachtet die herumblödelnden Jungs mit den Augen eines Freundes und nicht mit dem sezierenden Objektiv des Paparazzos.

Böse Zungen witterten ja einen ausgefeilten Marketing-Coup. Zu perfekt wirken diese vier liebenswürdigen Kerls, die angetreten sind, um Rock wieder Glaubwürdigkeit einzuhauchen. Die Musiker von Coldplay verschmelzen ihren Sound mit einem unbekümmerten Lebensstil, der durch eine überbordende Fülle von Archivmaterialen transparent wird.

Alle Menschen seien Teil der Band

Die Kernbotschaft lautet: Erfolgshunger ist wichtig – aber nicht so wichtig wie Solidarität unter vier unzertrennlichen Freunden. Alle Entscheidungen fällt die Band basisdemokratisch. Als sie im Zuge ihres kometenhaften Aufstiegs den Schlagzeuger Will Champion rauswarfen, weil er einfach nicht gut genug war, revidierten die Jungs reumütig ihre Entscheidung.

Emphatisch kommuniziert der Film die Message von vier bodenständigen Kerlen, die eine bessere Welt vorleben. Und für die Geld nicht das Wichtigste zu sein scheint. Mit dem musikalisch vermittelten Gefühl, alle Menschen seien Teil der Band, füllte Coldplay Fußballarenen.

Als Mastermind im Hintergrund zog Brian Eno die Strippen. Der geniale Soundtüftler, der mit Roxy Music Geschichte schrieb, David Bowie beeinflusste und Bands wie Talking Heads und U2 zu ihren Erfolgen verhalf, katapultierte Coldplay überhaupt erst in den Orbit. Nicht erwähnt wird im Film, dass Eno auch ein führender Aktivist der Israel-Boykott-Bewegung BDS ist. Vor diesem Hintergrund ist es pikant, dass der Coldplay-Sänger zu Beginn des Films in einem voll besetzten Fußballstadion emphatisch erklärt: „Ich will jedem helfen, Juden, Nichtjuden, Schwarzen, Weißen.“

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Mit Worten zum Ausdruck bringt der Frontmann, was die Musik von Coldplay fühlbar machen soll: „Wir wollen einander nicht hassen oder verachten. In dieser Welt ist Platz für alle. Die Erde ist reich genug. Der Hass wird vorübergehen, Diktatoren werden sterben.“

Wladimir Putin ist jedoch sehr lebendig. Und mit dem Krieg, den er in der Ukraine lostrat, klingen die hippieartigen Friedensbotschaften von Coldplay unzeitgemäß. TV-Bilder von Trümmerwüsten in der Ukraine machen schmerzlich bewusst, dass nach „A Head Full of Dreams“, den süßen Träumen, das Erwachen in der Realität folgte.

Die Kriegsgefahr war in vergangenen Jahrzehnten nie gebannt. Sie wurde lediglich vernebelt durch jenen Zeitgeist der Arglosigkeit – an dem auch eine Band wie Coldplay partizipierte.

Vor diesem Hintergrund ist der Film von Mat Whitecross aufschlussreich. Er wirft einen Blick zurück auf eine von Coldplay mitgeprägte musikalische Epoche, deren Lebensgefühl aus heutiger Sicht fremd erscheint.

Manfred Riepe

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