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Nach dem Amoklauf an einer Erfurter Schule im April 2002.

© picture alliance/dpa

TV-Dramen: Wenn wirkliche Gewalt verfilmt wird

Amokläufe, Geiselnahme als Live-Event, Oetker-Kidnappping - wie hiesige Filme mit zeitgenössischen Dramen TV-Geschichte geschrieben haben.

Die Kinder im Schulbus toben und lachen. Für den Chauffeur Erwin Mikolajczyk, ein verschrobener Eigenbrötler, ist diese Lebensfreude ein Graus. Beim nächsten Mal jedoch sind die Schüler mucksmäuschenstill. Der Fahrer lächelt zufrieden. Eher beiläufig zeigt die Kamera den Grund für diese unerwartete Disziplin: Der Busfahrer hat, für alle sichtbar, eine griffbereite Pistole als Warnung platziert.

Das sprechende Bild illustriert, worum es in diesem Fernsehfilm geht: Um die Geschichte eines Waffennarren, der Probleme mit der Realität hat und dessen Inneres wie eine Zeitbombe tickt. Das Drama basiert auf einer wahren Begebenheit: Der 39-jährige Sonderling Erwin Mikolajczyk hatte seine Ex-Freundin, eine 56-jährige Jugoslawin, misshandelt und musste sich deshalb vor dem Amtsgericht in Euskirchen verantworten.

Bei der Urteilsverkündung zückt der Mann – der einen schwarzen Lackmantel, Gummistiefel und eine Knoblauchkette um den Hals trägt – seine Waffen. Er erschießt die Ex-Lebensgefährtin, den Richter sowie vier Unbeteiligte im Gerichtssaal. Anschließend jagt er sich und Teile des Justizgebäudes mit einem selbst gebastelten Sprengsatz in die Luft.

Das Fanal ereignete sich im März 1994. Als RTL nur ein halbes Jahr später „Tag der Abrechnung – Der Amokläufer von Euskirchen“ im Fernsehen ankündigte, rechnete man mit dem Schlimmsten. Die Erwartungen erfüllten sich nicht. Peter Keglevic’ subtiles Psychodrama ging als herausragende Produktion der 90er Jahre in die Fernsehgeschichte ein. Zwei Gründe sind ausschlaggebend.

So glänzte der damals noch unbekannte Christoph Waltz mit einer intensiven Darstellung, die man im eher betulichen Medium des Fernsehspiels nicht gewohnt war. Vor allem nicht im Privatfernsehen.

Ungewöhnlich ist auch das Sujet. Im amerikanischen Kino bilden Amokläufe ein eigenes Subgenre. Obwohl sich an deutschen Schulen seit 2002 auch ein halbes Dutzend solcher Bluttaten ereignet haben, ist das Thema in der hiesigen Film- und Fernsehlandschaft nicht populär.

Thomas Siebens Drama „Staudamm“ von 2014, das sich an den Erfurter Schüleramoklauf von 2002 anlehnt, spart die Gewalttat bewusst aus. Das gilt ebenso für den österreichischen Film „Die Stille danach“ von 2016, der die Perspektive vom Massaker selbst auf die Eltern eines Amokschützen verschiebt, die mit einer tödlichen Hypothek weiterleben müssen.

Innere Abgründe nach außen stülpen

Und auch in „Gladbeck – Der Film“ geht es weniger um die Täter als um die Sensationsgier der Medien, die eine Geiselnahme als Live-Event mit anstachelten.

Was aber geschieht im Kopf eines Menschen, der plötzlich ausrastet? Diese Frage stellt Rainer Werner Fassbinder in „Warum läuft Herr R. Amok?“. Kurt Raab glänzt in diesem frühen Film von 1970 depressiver Buchhalter, der alles in sich hineinfrisst – bis es aus ihm herausplatzt. Diesen zermürbenden Mechanismus umkreist auch Keglevic’ Psychodrama, das sich erstaunlich viel Zeit nimmt, um die verpfuschte Kindheit des späteren Amokläufers auszuleuchten.

Die Küche eines ärmlichen Hauses: formvollendete Tristesse der 60er Jahre. Will der Sohn die Mutter (Cornelia Froboess) umarmen, dann schickt sie ihn zum Händewaschen.

Der Vater (Christian Redl), ein hartherziger Schuster, vermittelt seine Autorität mit dem Teppichklopfer. Die Erziehung ist ein Tauziehen zwischen Vater und Sohn: Wer ist der Stärkere? Zurück bleibt ein Muttersohn, der sich von niemandem etwas sagen lässt, keine wirklichen emotionalen Bindungen eingeht, jahrelang keine Arbeit findet – und der glaubt, dass alle ihn hinters Licht führen wollen.

Erwins einzige Leidenschaften: Frauen in Gummistiefeln und Waffen, die er auf dem Dachboden hortet. Dieser Mikolajczyk ist ein Psycho. Aber einer, den man im deutschen Fernsehen so nie zuvor sah. Vielleicht hätte Klaus Kinski die Zerrissenheit dieses Verrückten in dieser Intensität darstellen können. Im Unterschied aber zu Kinski, der immer durchgeknallt wirkt, gibt es bei Christoph Waltz dieses diabolische Changieren.

Der Österreicher hat die Fähigkeit, Menschen zu verkörpern, die quälend normal erscheinen – um dann sukzessive deren innere Abgründe nach außen zu stülpen. Der Moment, in dem er als Erwin Mikolajczyk zunächst liebenswürdig, dann im herrischen Tonfall seine Freundin anfährt, sie möge die Gummistiefel anziehen, lässt einem heute noch das Blut in den Adern gefrieren.

Waltz’ Fähigkeiten blitzten bereits 1990 in der Eurokratie-Satire „Der große Reibach“ an der Seite von Ian Richardson auf. 1996 glänzte er in der Titelrolle des Roy Black Biopicks „Du bis nicht allein“. Und 2002 machte er mit der preisgekrönten Darstellung eines Kidnappers in „Die Entführung des Richard Oetker“ auf sich aufmerksam.

Doch erst 2009 konnte er als sadistischer Nazi in Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ jene Intensität zeigen, die bereits in „Tag der Abrechnung“ zu sehen ist.

Für die 90er Jahre war diese souverän erzählte Geschichte eines Verlierers zu verstörend. In der Jury des Adolf-Grimme-Preises, welcher der Schreiber dieser Zeilen seinerzeit angehörte, wurde der Film verschämt ignoriert. Ausgezeichnet wurden gefällige Krimis und Fernsehspiele, die keinem wehtun. Man sollte „Tag der Abrechnung“ wieder zeigen.

Manfred Riepe

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