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Deutsche Fahnen und Banner auf den Tribünen nach dem Spiel zwischen Deutschland und Japan im Khalifa International Stadium am 23. November 2022 in Doha, Katar.

© Getty Images/Stuart Franklin

Nationalmannschaft als Heilsbringer?: Es ist Zeit, endlich loszulassen

Das DFB-Team soll für Vielfalt stehen und für ein deutsches Wir-Gefühl, für westliche Werte und diffusen Stolz. Doch die Vereinnahmung funktioniert von keiner Seite.

Ein Kommentar von Hannes Soltau

„Blamage!“, „Debakel!“ und „Wie peinlich! Wir sind raus!“. Ein Aufschrei narzisstischer Kränkung tönte nach dem Ausscheiden der deutschen Fußballnationalmannschaft durch die hiesige Medienlandschaft.

„Das DFB Team ist ein perfektes Abbild Deutschlands: Ein ehemaliger Gigant, der vom Ruhm alter Tage lebt, sich aber seit Jahren auf dem Abstieg befindet. Ein entgleister D-Zug, verloren im Diversity-Wahn, ohne eine einzige, richtige Zukunftsweiche zu stellen“, schrieb der Medienunternehmer und „Querdenker“ Samuel Eckert stellvertretend für das Heer der Enttäuschten in einem vielbeachteten Beitrag auf Twitter.  

Das Schicksal der Nationalmannschaft ist in dieser Lesart das Schicksal Deutschlands. Wenn „wir“ es zum wiederholten Mal nicht durch die Vorrunde schaffen, was sind „wir“ dann noch? Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt, um diese von Heilserwartungen überladene Projektionsfläche ein für alle Mal aufzugeben.

Ausgerechnet der seelenlose, korrupte Profifußball soll den Missständen unserer Zeit entgegenwirken?

Hannes Soltau

Trotz aller Boykottaufrufe: Die Sehnsucht nach Zerstreuung und Entlastung in einer von Coronakrise, Ukrainekrieg und Inflationssorgen geplagten deutschen Gesellschaft war auch bei der WM in Katar zu spüren. Wieder einmal sollte die Nationalmannschaft einer verunsicherten Nation ihr Selbstbewusstsein zurückgeben. Jungs, macht uns bitte stolz!

Wie 1954, als der Weltmeistertitel die Scham und Schuld der nationalsozialistischen Vergangenheit zukleisterte. Oder 1990, als der Turniersieg der patriotische Kitt für die deutsche Wiedervereinigung war.

Der Philosoph Theodor W. Adorno warnte mal, dass Weltmeisterschaften die „Fußballinteressenten zur Volksgemeinschaft“ zusammenschweißten und sich „spektakulär verschlampte Gammler und wohlsituierte Bürger in ihren Sakkos“ einträchtig um Kofferradios auf dem Bürgersteig scharten.

Seitdem hat sich viel verändert. Angesichts eines multiethnischen, multireligiösen Teams findet das völkische „Wir“ schon lange keinen Anschluss mehr.

Das deutsche Team hält sich aus Protest gegen die FIFA beim Teamfoto vor dem Spiel gegen Japan den Mund zu.
Das deutsche Team hält sich aus Protest gegen die FIFA beim Teamfoto vor dem Spiel gegen Japan den Mund zu.

© Imago/Ulmer

Doch schon gibt es neue Anforderungen. In aktuellen Umfragen des Deutschlandtrends, forderten mehr als die Hälfte aller Befragten, dass Fußballer sich mehr zu den gesellschaftlichen Missständen äußern müssten. Ebenso viele bemängelten, dass die Reaktion der Nationalmannschaft nach dem Verbot der „One Love“-Binde nicht weit genug ging.

Der Anspruch: vollkommene Moral, korrektes Betragen und eine uneingeschränkte Vorbildfunktion. Ausgerechnet der seelenlose, korrupte Profifußball soll den Missständen unserer Zeit entgegenwirken?

 Ich wäre für eine Gesellschaft, die den Fußball tatsächlich nicht gegen Menschenrechte eintauscht und ethische Grenzen setzt. Wir haben nun einmal Werte und Normen, auf die wir stolz sind.

Schreibt Community-Mitglied Tennyson

Man könne nicht eine Insel des Glücks auf Leichenbergen bauen, hieß es vor der WM. Als ob unser tägliches Leben im Wohlstand nicht auf dem Handel mit autoritären Regimen basierte.

Die vermeintlichen Erlöser wurden zum wiederholten Male gestürzt. Und haben den Deutschen damit die bequeme Entlastung von alltäglichen Widersprüchen genommen. „Wir“ sind raus. Aus der Weltmeisterschaft. Und hoffentlich bald auch aus unseren Illusionen.

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