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Screenshot des inzwischen abgeschalteten Twitter-Accounts von „Jule Stinkesocke“.

© Screenshot/Tagesspiegel

Rollstuhl-Bloggerin „Jule Stinkesocke“ war Fake: Warum fällt es Menschen so schwer zu akzeptieren, dass sie getäuscht wurden?

14 Jahre lang schrieb der Account über das Leben mit Querschnittslähmung, gewann Preise, sammelte Spenden. Nun flog auf, dass wohl ein Mann dahintersteht. Doch viele User weigern sich, dies zu glauben.

Es ist eine Geschichte, für die es bislang keine Beweise gibt. Für die es nur viele, erdrückend viele Indizien gibt. Und bei der die einzigen Menschen, die alle Vorwürfe widerlegen könnten, nichts zur Wahrheitsfindung beitragen, sondern Nebelkerzen zünden und lügen. 

Falls diese Geschichte stimmt, ist Folgendes passiert: Eine preisgekrönte Bloggerin, die 14 Jahre lang einer wachsenden Leserschaft über ihre Querschnittslähmung, ihr Leben im Rollstuhl und Diskriminierungserfahrungen berichtete, existiert überhaupt nicht. Fotos, die sie angeblich zeigen, gehören in Wahrheit zu einer australischen Pornodarstellerin. Hinter allem steckt vermutlich ein älterer Mann, der sich die Geschichten ausdachte, dabei eigene erotische Fantasien auslebte und sich obendrein noch finanziell bereicherte, indem er Spenden sammelte.

Der Blog und der zugehörige Twitter-Account mit rund 70.000 Followern, die im Zentrum der unfassbaren Posse um die mutmaßliche Kunstfigur „Jule Stinkesocke” stehen, sind kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe abgeschaltet worden. Es bleiben viele Fragen, auch grundsätzliche: Ist es legitim oder verwerflich, sich im Netz als jemand völlig anderes auszugeben und seine Mitmenschen zu täuschen? Handelt es sich vielleicht sogar um einen befreienden Akt der Selbstverwirklichung? Und falls ja: Gilt diese Deutung auch dann, wenn man sich als Person ausgibt, die Diskriminierung erfährt und Unterstützung verdient, obwohl man selbst gar nicht betroffen ist?

Der Zweiflerin werden Nazi- und Stasi-Methoden vorgeworfen

Zunächst erstaunt es, wie viele Menschen sich weigern, die Vorwürfe gegen „Jule Stinkesocke” wenigstens ernst zu nehmen. Die partout nicht in Betracht ziehen wollen, belogen worden und auf einen sogenannten „Realfake” hereingefallen zu sein. Das geht so weit, dass manche Nutzer sogar das Offensichtlichste bestreiten: dass die Fotos des Accounts in Wahrheit eine Australierin zeigen, die keineswegs im Rollstuhl sitzt. Nein, es gebe da maximal optische Ähnlichkeiten, schreibt einer. Mehr Realitätsverweigerung geht kaum.

Seit die Twitter-Nutzerin @pudelskernspin vor einer Woche erste fundierte Zweifel an der Echtheit von „Jule Stinkesocke” öffentlich machte, wird sie aufs Übelste angefeindet. Ihr werden Nazi- und Stasi-Methoden vorgeworfen. Ein Nutzer grüßte sie mit „Heil Pudel“ und rechtfertigte seine Entgleisung später damit, sie habe „faschistische Stilmittel” benutzt.

Erschreckend, wie wenig konsensfähig die simple Grundregel „Don’t shoot the messenger“ bis heute ist. Dass man darüber überhaupt noch diskutieren muss.  

Der Fake-Account hat niemandem geschadet? Von wegen!

Dem Tagesspiegel berichtet @pudelskernspin, sie bekomme auch Direktnachrichten von Nutzern, die Jule viel Vertrauen und Geld gespendet hätten und nun dankbar seien für die Aufklärungsarbeit. Die dies aber nicht öffentlich äußern wollten aus Angst, verhöhnt zu werden.

Manche Verteidiger der falschen Bloggerin „Jule Stinkesocke“ sagen, eine Diskussion um ihre Echtheit lohne sich nicht, schließlich habe sie ja keinen Schaden angerichtet. Das ist so unverschämt, als würde man behaupten, der Betrüger Claas Relotius habe nicht dem Journalismus und nicht seinen Kollegen geschadet.

Ich habe in den letzten Tagen erfahren müssen, welche Bedeutung ich bei Twitter habe!

Statement des Accounts „Jule Stinkesocke“

Selbstverständlich hat „Jules“ Fake-Account schwere Schäden angerichtet: Er hat Vertrauen missbraucht, tatsächliche Betroffene werden nun womöglich nicht mehr den Vertrauensvorschuss bekommen, den sie unbedingt verdienen. Er hat Aufmerksamkeit auf sich gezogen, die andere gebraucht hätten (2012 kürte die Deutsche Welle ihn zum „Besten deutschsprachiges Blog“, 2013 gab es den „Mutmacher“-Preis von der „Aktion Mensch“). Er wird Hetzern die Möglichkeit bieten, die Inklusionsbewegung zu diffamieren. 

Wer immer hinter der Kunstfigur „Jule“ steckt: Die Person geht extrem manipulativ vor. Versucht denen, die auf Unstimmigkeiten hinweisen, ein schlechtes Gewissen einzureden. Gibt ihnen die Schuld daran, dass ihr Account nun „verbrannt“ sei. Inszeniert sich als Opfer, das gar nicht wisse, wie ihm geschieht. In einem Statement zu den Vorwürfen schreibt die Person: „Ich habe in den letzten Tagen erfahren müssen, welche Bedeutung ich bei Twitter habe!“ Das ist grotesk, wenn man sich ihre alten, von anderen Nutzern archivierten Blogeinträge durchliest. Da berichtet sie stolz, ihr Kanal gehöre zu den 50 populärsten in Deutschland, bekomme mehr Likes als Luisa Neubauer und Borussia Dortmund. Ihr Blog werde millionenfach angeklickt.

Der manipulative Charakter dieser Person zeigt sich in vielen Details. Im Statement heißt es etwa scheinbar einsichtig, „Jule“ hätte es wohl „besser kommunizieren” und „öfter wiederholen” müssen, dass ihr Profilbild nicht sie selbst zeige. Besser und öfter? Klingt nach einer verzeihlichen Nachlässigkeit. Die Wahrheit ist: Sie hat es niemals kommuniziert und nie wiederholt.

„Jule“ sagt, sie habe nur deshalb Fakten verdreht, um sich vor Stalkern zu schützen

Sie schreibt, sie hätte das falsche Profilbild nur eingestellt, damit sie endlich Ruhe habe – weil sie zuvor ständig von anderen Menschen um ein Profilbild gebeten wurde und viel Druck auf sie ausgeübt wurde. Quasi aus Notwehr. Diese Erklärung kann ebenfalls nicht stimmen, denn der Account hat auch zu ganz anderen Gelegenheiten Fotos der Australierin gepostet.

Die angebliche Jule schreibt, sie habe nur deshalb Fakten verdreht und falsche Spuren gelegt, um sich vor Stalkern zu schützen. Wer jetzt also darauf aufmerksam mache, treibe sie geradewegs in die Arme der Stalker.

Schwerwiegende Zweifel hatten @pudelskernspin und ihre Mitstreiter schon länger. Doch sie zögerten, diese publik zu machen. Sie wollten der Inklusionsbewegung nicht schaden. Dann passierte etwas, was sie zum Handeln zwang: Zum Kosmos von „Jule Stinkesocke“ gehört ein weiterer Account namens „Helena“, sehr wahrscheinlich ebenfalls ein komplettes Fantasieprodukt. Diese angebliche Helena berichtete von sexuellen Übergriffen durch einen Trainer in ihrem Behindertenschwimmverein, und dass eine Anwältin davon abgeraten habe, zur Polizei zu gehen und den Täter anzuzeigen. Dass ein Fake-Account derartige Tipps verbreitet und somit womöglich erreicht, dass Leser in anderen Fällen ebenfalls keine Anzeige erstatten, war für die Aufklärer nicht hinnehmbar. 

Die Hemmschwelle, die Lügenidentität offen anzuzweifeln, liegt hoch

Der Fall erinnert an den Bestsellerautor Deno Licina, der im Internet als „Der Poet“ bekannt wurde. Bis herauskam, dass er hundertfach fremde Tweets kopierte und unter eigenem Namen verbreitete. Sogar die Rechtschreibfehler übernahm er. Auch für seine Bücher schrieb Licina massenhaft von anderen Autoren ab. Als er aufflog, weigerte sich ein Teil seiner Fans, das Offensichtliche zu sehen, und attackierte stattdessen lieber jene, die den Betrug aufdeckten.

14 Jahre lang bloggte „Jule Stinkesocke“ über das Leben mit Rollstuhl.

© Sergiy Tryapitsyn/mauritius images/Alamy

Bei „Jule Stinkesocke“ lag die Hemmschwelle, ihre Lügenidentität offen anzuzweifeln und den Betreiber des Accounts zu kritisieren, ungleich höher. Was, wenn alles irgendwie ein großes Missverständnis war, es sich am Ende doch um eine auf den Rollstuhl angewiesene, von Stalkern verfolgte, den Schutz der Anonymität benötigende Frau handelt? Der Betrug zeugt von einer Dreistigkeit, die schwer vorstellbar ist. Aber er ist nicht einzigartig. Da war zum Beispiel die Krebskranke, die lange Zeit im Hospiz verbrachte und trotz schwerster Symptome nicht starb. Sie wurde zum Vorbild für andere Erkrankte und deren Angehörige, hielt über Jahre gefeierte Vorträge über den Umgang mit dem Sterben. Eine bewundernswerte Frau. Dann kam heraus, dass sie nie Krebs hatte. Sie hatte ihre Ärzte gegeneinander ausgespielt, das Hospiz, die Medien und ihre Familie getäuscht. Zu so etwas sind Menschen fähig.

Die Schlinge zieht sich zu

Wer immer noch glaubt, es sei gar nicht relevant, ob unter dem Namen „Jule Stinkesocke“ tatsächlich eine querschnittsgelähmte Frau bloggte oder ein Mann, der sich als querschnittsgelähmte Frau ausgab, der hat den Blog vermutlich nicht gelesen. Die angebliche Jule bloggte sehr offen und detailreich über ihre Sexualität, über Ausscheidungen und Windelfetische. Über das Fingern durch Leggins, Masturbieren trotz Inkontinenz, die Fantasie, abends „heimlich den eigenen Katheterschlauch in den Mund des Partners zu legen“.

Es fielen Sätze wie: „Ich habe mir auf die Hand gepinkelt beim Zurückhalten. Muss ich die Hand waschen? Du kannst sie auch ablecken.“ Oder: „Mein Hund frisst meine Kacke aus dem Plumpsklo.“ Oder: „Pups die alte Stinkesocke kackte gerne in der Hocke mitten in den Rolli rein, ach herrje, das duftet fein!“ Alles legitim, wenn eine Betroffene darüber schreibt – wer das unangebracht findet, soll sich verziehen. Doch wie verwerflich ist es bitte, wenn sich da über Jahre ein Mann daran aufgegeilt hat, dass Zehntausende nichtsahnend seine Fetischfantasien lesen?

In den kommenden Tagen werden neue Belege an die Öffentlichkeit gelangen, dass ein Mann hinter dem Account „Jule Stinkesocke“ steckte. Neue Verdachtsmomente und unauflösbare Widersprüche. Die Schlinge zieht sich zu. Der Tagesspiegel hat „Jule Stinkesocke“ angeschrieben und um ein Gespräch oder wenigstens Hinweise gebeten, um die Vorwürfe der Zweifler widerlegen zu können. Es kam keine Antwort.

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