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Gesellschaft: Vom Pflücken der Früchte

Paradiesisch: Kirschen und Johannisbeeren aus dem eigenen Garten. Doch was heute schick und bio ist, war nach dem Krieg die blanke Not. Unsere Autorin erinnert sich an eine Zeit voller Kraut und Rüben.

Selbsteingemachte Marmelade ist natürlich das Größte. Wenn die Früchte dafür auch noch im eigenen Garten geerntet worden sind, muss man das bei jedem Brötchen, das man damit bestreicht, erwähnen. Mein kleiner Enkel nickt dazu ernst mit dem Kopf und sagt „Selbi!“. Seit ich nur noch einen kleinen Enkel zu Besuch und keine große Familie mehr habe, ist das „Selbi“ seltener geworden. Die letzte Marmelade habe ich aus zwei Stück Grapefruit, einer feingehackten Peperoni und fünf Minzblättern (immerhin aus meinem Kräuterbeet) gekocht. Ergab zweieinhalb Gläser. Früher hatte ich von einer Sorte mindestens zwölf Gläser. Früher musste man die Marmelade auch nicht so schnell essen wie heute. Wenn sich eine dünne Schicht Schimmel bildete, kratzte man die einfach runter. Heute stirbt man daran. Angeblich.

Es gab eine Zeit, in der wir uns von unserem Garten ernährten. Wir hätten auch noch das Gras gegessen, aber davon gab es nur noch wenig auf unserem Grundstück, in dem zuvor Rosen, Blaukissen und alle möglichen Zierpflanzen wuchsen. Alle Blumenbeete waren in den drei harten Nachkriegsjahren umgegraben worden zugunsten von Kohl, Tomaten, Möhren, Gurken, Zwiebeln und sogar zwei Reihen Kartoffeln. Selbst das Unkraut wurde gegessen, aus den Brennnesseln machte meine Mutter Spinat, aus Löwenzahnblüten einen ganz ordentlich schmeckenden Honig.

Wir wohnten in Württemberg, wo der Anbau von Gemüse und Obst ohnehin bei den weniger feinen Leuten aus Sparsamkeitsgründen üblich war. Jetzt ging es nicht mehr ums Sparen, sondern ums Überleben – 1250 Kalorien pro Tag gab es auf Lebensmittelmarken, und das war keine Weight-Watchers-Diät, sondern Hungerelend.

Ich war in dieser Zeit ein Teenager und hatte, wie auch meine Eltern, keine Ahnung von Gartenbau. Hacken, Gießen, ich hasste das, aber natürlich wurde ich dazu herangezogen. Wir hatten nette Nachbarn, die uns die Hälfte ihrer Johannisbeerbüsche ernten ließen. Das hasste ich auch. Johannisbeerenabzupfen ist wirklich eine sehr lästige Beschäftigung. Auch das Abziehen von Bohnen und das anschließende Schnipseln. Wir ließen uns die Rezepte für Marmeladen und das Einwecken von Bohnen von einer alten Kindergärtnerin geben.

Einmal brachte mein Vater von einer Hamsterfahrt aufs Land zwei Zentner Zuckerrüben mit. Sie mussten gewaschen, geviertelt und 24 Stunden in unserem Waschkessel im Keller gekocht werden, und das Resultat war ein brauner, ziemlich ekelhaft schmeckender Sirup, den man aufs Brot strich.

Nur eines schmeckte unvergleichlich besser als die heutige Ware, die man in Dosen kauft: das Sauerkraut aus den eigenen Kohlköpfen. Allerdings natürlich erst, wenn es fertig war. Zuvor musste es gehobelt werden und in einem Holzfass, weiß Gott, wo wir das her hatten, schichtweise mit Salz eingelegt werden. Das Schwerste kam dann: Einstampfen mit einem Holzhammer, bis der Saft an der Oberfläche erschien und das Kraut mürbe war. Manche Leute machten das mit den Füßen, ich versuchte es auch, nach ausführlicher Waschung. Aber das Salz juckte. Schließlich kam ein Geschirrtuch, ein Stein und zuletzt ein Holzdeckel aufs Fass. Mit Rotkohl haben wir dasselbe auch probiert, aber Rotkohl blieb hart. Auch Bohnen, gebrüht und eingesalzen, wurden im Leben nicht mehr weich.

Lang ist’s her. Solche Erfahrungen bedeuten heutigentags niemandem mehr etwas. Auch das Problem mit den Gurken hat sich inzwischen züchterisch gelöst. Sie werden nicht mehr bitter, was damals oft zu einer betrüblichen Kürzung der Ernte führte. Die modernen Kohlrabi bekommen im Innern auch kein holziges Gitter mehr. Aber die Tomaten waren besser, vielleicht nur in meiner Erinnerung.

Von der bequemen Art des Einfrierens waren wir noch weit entfernt. Wir trockneten Apfelringe, Birnenviertel, Pilze. Davon gab es im Wald noch viele. Auch Bucheckern. Meine Mutter und ich sammelten an kalten Herbstmorgen Säcke voll in den Buchwäldern um Stuttgart. Wir brachten die kleinen dreieckigen Nüsschen in eine Ölmühle. Das Öl war wunderschön goldgrün und roch nach Marzipan. Aber man durfte es nur tropfenweise verwenden, sonst bekam man Bauchweh. Es enthielt Blausäure. Alles für den Kochtopf, Vorräte für den Winter – darum drehte sich die ganze Sorge. Ein paar Mal kam ein ehemaliger Luftwaffengeneral in seiner abmontierten Uniform vorbei und belieferte uns mit kleinen Kübeln voll einer merkwürdigen Suppenpaste, die aus dem Holz eines adligen Gutswalds in Niederbayern gewonnen wurde. Vom heutigen Gesichtspunkt aus total bio. Ob sich noch jemand des Gutsherrenbetriebs derer von Aretin an dieses Nachkriegserzeugnis erinnert? Wir nannten es Holzbrühe.

Das wohlige Gefühl, wenn im Vorratskeller stramm gefüllte Einweckgläser standen. Die Gläser mit den Bohnen mussten ständig kontrolliert werden, weil der Inhalt dazu neigte, Gase zu entwickeln und die Glasdeckel mit den Gummiringen zu lüften. Nein, weggeschmissen wurden die Bohnen deshalb nicht, nur noch mal stundenlang gekocht.

Wenn meine Oma aus München kam, kochte sie mit großem Arbeitsaufwand Zwetschgenmarmelade, sogenannten Powidl, ein. Wir hatten selber keinen Zwetschgenbaum. Meine Oma war streng katholisch, mit kommunistischem Einschlag. Sie klaute die Zwetschgen in den Schrebergärten der Umgebung. „Der liebe Gott hat’s für alle wachsen lassen“, begründete sie ihre kleinen Raubzüge, zu denen sie meinen Bruder und mich mitnahm, weil wir besser unter den Maschendraht der Gartenzäune durchkriechen konnten. Meine Mutter hatte keine Ahnung von unserem Treiben. Erst als einmal die Polizei vor der Tür stand, erfuhr sie, dass die Zwetschgen nicht geschenkt waren. Aber da war die Oma schon wieder weg. Der Powidl schmeckte toll, aus – wie auch immer – eigener Ernte.

Inzwischen lässt der liebe Gott wieder vorwiegend Blumen in den Gärten wachsen. Obst und Gemüse kommt aus fernen Ländern. Seit einiger Zeit deutet sich jedoch ein sensationeller Wandel an. Man pflanzt zunehmend Nützliches. Beete, auf denen Salatköpfe und Sellerieknollen gedeihen, Zwiebel sprießen, Gurken und Zucchini blühen und sogar Kartoffeln wachsen („die schnelle Annabelle für den Hobbygärtner“) gelten nicht mehr als spießig, sondern als bio. Gesund. Lebensverlängernd. Kräuter sämtlicher Sorten sind total in. Zitronengras zum Beispiel. Oder Estragon. Wie, Sie wissen nicht, an welches Gericht sie Estragon geben sollen? Kaufen Sie sich doch eines der hunderttausend Bücher zum Thema „Der Nutz- und Kräutergarten“.

Natürlich rentiert sich der Anbau nicht. Es gibt auch keine Notwendigkeit für die Arbeit und Anstrengung. Was früher Not war, ist jetzt Spaß. Wenn auch ganz sicher nicht für die 15-jährigen Töchter, wie ich mal eine war. Die Gurken aus eigener Zucht schmecken gewiss allen besser. Ob Sauerkrautmachen wieder modern wird, ist die Frage. Feuerbohnen gehen übrigens auch als schmückende Zierpflanzen durch. Nach wie vor werden sämtliche Salatköpfe zur selben Zeit reif. Mit Rezepten für frittierte Zucchiniblüten lassen sich Zucchinischwemmen vermeiden. Nach eigenen Angaben gehen unsere Sterneköche persönlich in den Wald, um Sauerampfer zu pflücken. Ein Gerücht, das ich für eine glatte Lüge halte.

Also: Meine erwähnte exotische Grapefruitkonfitüre contra Apfelgelee aus eigener Ernte. Ich habe Apfelgelee nie mögen. Ich mag Ingwer ehrlich gesagt lieber als den Salbei, der so überreichlich in meinem Garten gedeiht. Die Anzucht von Petersilie habe ich aufgegeben, wird bei mir einfach nichts. Kauf ich sie halt.

Aber der Trend ist mittlerweile unumkehrbar, sogar von königlicher Seite in England geweiht. Die legendäre Gartenschau in Chelsea, weltberühmt für ihre Rosenpräsentationen, zeigt dieses Jahr erstmals auch neue Gemüsezüchtungen. Die Queen, wie immer am Tag vor der Eröffnung als erster Gast da, hat Tomaten und Hängespinat wohlwollend begutachtet.

Ursula Friedrich

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