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Es gibt viele Gründe, um sich zu schämen. Die Pandemie hat neue hinzugefügt.

© Imago/Rolf Kremming

Impf-Priorisierung in der Pandemie: Wie Corona uns lehrte, uns wieder zu schämen

Die einen schämen sich, schon geimpft zu sein. Die anderen nutzen die Not ihrer Mitmenschen schamlos aus: Die Pandemie ruft ein altes Gefühl wieder wach.

Götter und Tiere schämen sich nie. Was bereits Charles Darwin zu folgender Definition veranlasste: Der Mensch ist das Tier, das sich schämen kann. Natürlich gibt es auch eine Evolution der Scham.

Die neueste Scham ist die Impfscham. Oder sollte man schon sagen: war? Berlin und Baden-Württemberg haben die Impf-Priorisierung in den Arztpraxen gerade unter heftiger Kritik aufgehoben, andere Länder wollen folgen. Nicht vor dem 7. Juni!, mahnte der Gesundheitsminister. Grund genug, eine der wohl kurzlebigsten Schamformen – im Gegensatz zur „Flugscham“ etwa – noch einmal näher zu betrachten.

Wer schon geimpft ist und weiß, dass andere den Vortritt gehabt hätten, schweigt lieber. Nicht so sehr, weil er keinen Impfneid erregen will, nein, aber unangenehm ist es doch. Erkennen aber zwei vorfristig Geimpfte einander, sprechen sie ganz offen über das ungemein gute Gefühl, das sie seitdem haben.

Skeptiker der Aufhebung der Priorisierung argwöhnen nun, die Zahl der „Impfdrängler“, der Schamlosen also werde jetzt drastisch zunehmen. Das sind die, die gerade falsche Angaben über Alter, Gesundheitszustand und Beruf machen, um früher einen Termin zu bekommen.

Impfscham? Der vielleicht größte Scham-Sachverständige dieses Landes, der Sozialwissenschaftler Stephan Marks, ist davon überzeugt, dass die Scham, das Aschenputtel unter den Gefühlen – keiner spricht davon – , in Wahrheit eine Goldmarie ist: ein Schlüsselbegriff, uns und die Welt besser zu verstehen.

Das Adjektiv „größter“ vor „Scham-Sachverständiger“ möchte er am liebsten streichen, es beschämt ihn.

Marks sitzt gerade in einem jungen Württembergischen Mai-Sturm, der bereits alle seine Hausgeräte und das Telefon abgestellt hat. Stromausfall. Der Wissenschaftler registriert das Gefühl einer unguten Isolierung, wie es auch die Scham kennt: Wer sich schämt, ist ganz allein auf der Welt. „Ich schaue in den Spiegel und sage: Oh! Die Scham ist die Instanz, die uns befähigt, auf uns selbst zu blicken.“ Über der Scham steht nur noch die Schande, darunter finden sich die kleinen Schwestern der Scham, Verlegenheit, Peinlichkeit. Das indogermanische Urwort „kam“ bedeutet „verbergen, zudecken“.

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Nun ist die Impfscham keineswegs zu vergleichen mit der Verurteilung, die Menschen trifft, die sich – Maskenaffäre! – an Corona bereichert haben. Auch für den Umstand, dass sich der Gesundheitsminister mitten in der Pandemie zu Sonderfinanzierungskonditionen eine Millionenvilla kaufte, haben manche nur ein Wort: schamlos.

Gesundheitsminister Jens Spahn ist in vielerlei Hinsicht in die Kritik geraten.

© Imago/Nordphoto

Jenseits aller Entblößtheiten ist dies das vielleicht schärfste Wort der moralischen Verurteilung, ja Ächtung. Aber was gibt ihm diese Wucht? Der amerikanische Primatenforscher und Anthropologe Richard Wrangham hat das in jüngster Zeit wohl am eindringlichsten dargelegt: Die Scham habe uns ursprünglich vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft geschützt. Und Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeutete für unsere jagenden und sammelnden Vorfahren eben nicht: Du darfst nicht mehr mitspielen!

Schon das ist eine ungemein schambehaftete Situation, die wohl jeder aus Kindertagen in seiner persönlichen Schambiografie aufbewahrt. Wir vergessen fast alles, aber nie die Situationen tiefster Scham. Das Gefühl des Ausgegrenztseins signalisiert noch immer Todesgefahr.

Unsere Emotionen, unsere täglichen Begleiter und Orientierungshilfen, gehören also oft einer längst versunkenen Welt der stärkeren Sozialbeziehungen an. Unpraktisch ist das schon. Freude, Lust, Angst und viele andere Affekte teilen wir mit den übrigen Tieren, aber die Scham haben wir exklusiv für uns.

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Eine zwischenmenschliche Regung, das soziale Gefühl schlechthin, also doch auch wieder weich? „Im Gegenteil“, sagt Marks, „es ist eine der heftigsten, schmerzhaftesten Emotionen überhaupt“, und der Sozialwissenschaftler verweist auf den Neurobiologen Donald Nathanson. Nathanson beschreibt die Schamreaktion als „kognitiven Schock, der höhere Funktionen der Gehirnrinde zum Entgleisen bringt“. Unsere Beredsamkeit geht gegen null, wir senken die Augen, die Mundwinkel zeigen abwärts wie bei Trauer und Schuld. Schamzeit ist Aschezeit.

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Von „Impfscham“ Betroffene haben allerdings noch nie ein Gefühl geäußert, als würde ihre Großhirnrinde entgleisen. Vielleicht sollte man eher von Impfverlegenheit sprechen. Die Normübertretung ist geringer. Wer noch nicht 60 Jahre alt, gesund und doch schon geimpft ist, hat sich schließlich nichts genommen, was ihm absolut nicht zusteht, bloß zum falschen Zeitpunkt. Und als Vakzin-Resteverwerter kurz vorm Ablaufdatum oder Astrazeneca-Abnehmer ist er schon fast wieder rehabilitiert. Verlegenheit wird oft von der Andeutung eines Lächelns begleitet, das weiß jeder.

Sich an der Beschaffung von Corona-Masken bereichert zu haben, lässt sich jedoch nicht weglächeln. Den Profiteur als schamlos zu bezeichnen, meint also übersetzt: Würde er sich noch als Teil der menschlichen Sozietät verstehen, hätte er das nicht getan. Die Handlung kommt also einem Selbstausschluss aus dem Gemeinwesen gleich.

Die Pandemie ruft ein fast verlorenes Gemeinschafts-Bewusstsein wieder auf

Wir verstehen noch intuitiv die archaische Wucht, und diese bezeichnet vielleicht das Kardinalproblem der Gegenwart: Die Gemeinschaft, aus der man ausgeschlossen werden könnte, existiert gar nicht mehr. Mehr als 80 Millionen Menschen mögen zwar formal Bürger der Bundesrepublik Deutschland sein, sie leben im gleichen Land, aber in völlig verschiedenen Welten.

Und die Fiktion dabei sind nicht die verschiedenen Welten, sondern es ist das gleiche Land. Der Soziologe Wolfgang Engler hat das einmal so formuliert: Die Reichen kennen kein Vaterland und die Armen nur dieses eine, und das von unten.

Die Pandemie ruft das in den neoliberalen Gesellschaften fast verlorene Gemeinschafts-Bewusstsein wieder auf, und da bekommt selbst der Immobilien-Erwerb eine symbolische Dimension, die er sonst nicht hätte: wenn der Käufer der Gesundheitsminister ist und die Immobilie eine Millionenvilla zu Sonderfinanzierungskonditionen, während viele nicht wissen, wie sie ihre nächste Miete zahlen sollen.

 [Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog.]

„In einem wohlgeordneten Lande kein Einkommen zu haben, oder in einem ungeordneten Lande Einkommen zu haben: das ist Schande“, zitiert Marks Konfuzius. Konfuzius, 6. Jahrhundert vor Christus.

Nun könnte man sagen, was für ein guter Indikator für Fehlentwicklungen aller Art ist doch die Scham! Aber das ist voreilig.

Nicht jeder will in der Sauna nackt sein, aus Scham?

© imago/imagebroker/theissen

Nie vergisst der Bühnenbildner Joachim Hamster Damm die 15 kreuzkatholischen Süditalienerinnen in der Boxhagener Straße, Berlin-Friedrichshain. Es war ein Volksfest. Ratlos besahen sie Saunamobil und Lagerfeuer. Lauter akut unbekleidete Leute saßen davor. Was das denn für eine urzeitliche, vorzivilisatorische Zusammenkunft sei? Der Inhaber des Saunamobils sprach: 2,50 m x 3,50 m. Holzverkleidung. 100 Grad. Und alle sind nackt.

- Ganz? - Ganz! - Und warum? - Sie schwitzen.

Das sei schon alles? Fast, ergänzte der Bühnenbildner. Gemeinsam nackt zu schwitzen sei die Formel des Glücks. Die 15 Italienerinnen hatten noch nie eine so abstruse Definition des Glücks gehört, aber sie zögerten keinen Augenblick. Das war unser Tag der Befreiung, sagten sie zum Abschied. Und so war das im Grunde immer. Bis zu jenem Abend vor vier Jahren in Bremen.

Ein Mann betrat die Sauna, sah nur nackte Männer und sagte: „Wäre hier ein Frauenarsch, ich würde draufhauen!“ Es war einer da. Und draußen um das Lagerfeuer saßen nicht nur die Absolventen der 100 Grad drinnen. Sie waren umringt von verblüfften jungen Syrern, die, Hände in den Hosentaschen, ihre Blicke nicht wandten. Das Schlimmste aber war der Augenblick, als die nepalesische Trommelgruppe aus der Sauna kam. Alles war weg, Geld, Papiere, Flugtickets. „Plötzlich war, was sonst Glück war, nur noch Scham“, sagt Joachim Hamster Damm. Es war der letzte Tag seines Saunamobils.

Es war wie bei Adam und Eva, denn im Grunde ist es egal, ob man gerade aus dem Paradies oder aus der Sauna kommt: Sie erkannten, dass sie nackt waren. Die Scham macht den Mensch zum Menschen, sie steht am Anfang unserer Geschichte.

Die Burka symbolisiert den vollen „Schutz vor Scham“

Adam und Eva waren doch nicht sündhaft, weil sie nackt waren! Sondern erst als sie bemerkten, dass sie nackt waren, erst als Paradies-Vertriebene also, erschien ihnen ihre Natur plötzlich als Sünde. Jahrhundertelang galt „schamhaftes Verhalten“ für Frauen als höchste Tugend. Frausein hieß sich ein Leben lang schämen. Vorbei. Vorbei? In islamischen Ländern schämen sich Frauen sogar für ihr nacktes unverborgenes Gesicht. Die Burka symbolisiert den vollen „Schutz vor Scham“. Sie zu tragen, sei eine „Übung in Bescheidenheit und Stolz“. Das sagen nicht die Taliban, das sagt Judith Butler, die Vordenkerin der Gender-Studies.

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Die Erb-Sünde müsste eigentlich Erb-Scham heißen. Und wir, hätte der Bühnenbildner und Ex-Saunamobil-Betreiber Joachim Hamster Damm erklären können, setzen ab und zu wieder die richtigen Maßstäbe, Paradies-Maßstäbe.

Aber das haben oft nicht einmal die Westler verstanden, als sie 1990 die Ostler mit aufrichtigem Missfallen an ihren Stränden liegen sahen: meist unbedeckt. 40 Jahre Sozialismus, was will man verlangen! Da haben diese armen Menschen auch noch ihr Schamgefühl verloren.

Heute ist der FKK-Strand höchstens noch drei Strandkörbe breit, liegt grundsätzlich da, wo keiner mehr hinkommt, und gleich daneben beginnt der Hundestrand. Der ist größer.

Immerhin, niemand wird mehr an den Pranger gestellt, um sich – Kopf und Hände durch ein Brett gesteckt – öffentlich zu schämen. Währenddessen durfte er von jedem Vorübergehenden mit Eiern oder faulen Äpfeln beworfen werden. Steine galten als eher unfair. Wegen Unkeuschheit, Beleidigung, Ruhestörung, Streitsucht, Betrug... oder wegen des Verfassens von Satiren natürlich.

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Daniel Defoe stand 1703 in London unter anderem für seine „Hymne an den Pranger“ am Pranger. Allerdings bewarf ihn das Publikum statt mit Fallobst mit Blumen und trank auf sein Wohl. Das war schon fast das Ende dieser Institution des öffentlichen Schamvollzugs in Europa, an der das heutige Bewusstseins vor allem eins stört: seine vollkommene Missachtung der Schamgrenzen des Einzelnen, seiner Integrität. Denn die individuelle Scham ist ihre Wächterin.

Wohl alle früheren Gesellschaften waren Scham- und Schuldgesellschaften, Auch die Ehrenmorde in der islamischen Kultur sind nur von hier aus zu verstehen. Den anderen, mir selber endlich wieder in die Augen sehen können! Mitunter muss dafür ein Mensch sterben. Jeder Ehrenkodex ist ein Schamkodex. Und der Einzelne kommt darin nur vor als Teil eines Ganzen – der Familie etwa – , die er keinesfalls beschädigen darf.

Die Scham überwachte die elementare Arbeitsteilung jeder Gesellschaft

Aber gibt es wirkungsvollere Selbstorganisationsformen, Selbstkontrollformen von Gesellschaften? Die Scham überwachte bis eben auch die elementare Arbeitsteilung jeder Gesellschaft, die zwischen Mann und Frau. Grundregel: Kein Mann verrichte Frauenarbeit, denn das wäre knapsu. Knapsu ist tornedalfinnisch und bedeutet „weibisch“ – die größte Beschämung eines Mannes in allen Kulturen. Der Finne Mikael Niemi wies in seinem wunderbaren Roman „Populärmusik aus Vittula“ nach, dass fast alle Arbeiten in Vittula knapsu waren, bis auf die Elchjagd, das Prügeln und Flöße-Zimmern. Und weil fast alle Arbeiten überall auf der Welt knapsu sind, arbeiten Frauen immer mehr als Männer, meist unbezahlt.

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Sage mir, wofür du dich schämst, und ich sage dir, in welcher Gesellschaft du lebst! In dieser Woche erscheint Stephans Marks erfolgreiches Buch „Scham – die tabuisierte Emotion“ in von Grund auf überarbeiteter Neuauflage. „Ich kam auf mein Thema, als wir alte Menschen fragten: Warum folgten Sie Hitler? Wir fragte viele.“

Niemand benutzte das Wort, aber irgendwann wusste Marks, dass hinter all diesen Auskünften ein gemeinsamer Nenner stand, die Scham. Scham über den verlorenen Krieg 1918 und den verlorenen Kaiser, aber mehr noch über den „Schandfrieden“ von Versailles, Scham über die allgemeine Verwahrlosung, Scham über den Unfrieden im Land, die eigene Armut, die Arbeitslosigkeit... Die Folge des nationalsozialistischen Schammanagements war noch mehr Scham, das, was der frühere Bundespräsident Theodor Heuss die „Kollektivscham“ der Deutschen genannt hat. Die Scham über den Völkermord an den Juden ist vererbbar wie fast jede Scham.

Schäm Dich! Hunde kennen das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.

© Imago/Blickwinkel

Marks beschreibt auch die tiefste Schicht des Nahost-Konflikts als Scham-Konflikt: Auf der einen Seite die Palästinenser, Angehörige einer traditionalen Scham-Kultur, für die namus, die Ehre, über allem steht. Für die die fortwährende Erniedrigung schwerer wiegt als alle Entbehrung, alles körperliche Leid. Und gibt es eine größere Scham, als aus seinem eigenen Haus getrieben zu werden?

Auf der anderen Seite die jüdische Scham, auf die der kürzlich verstorbene israelische Psychologe Dan Bar-On aufmerksam machte, weitergegeben von Generation zu Generation: Nie wieder werden wir schwach, nie wieder wehrlos sein! Fürwahr ein Teufelskreis.

Wer heute über fünfzig ist, kennt wohl noch die letzte Rückzugsform des Prangers aus der Schule, die Aufforderung „Stell dich in die Ecke und schäm dich!“ Die Scham ist die Wächterin der Grenzen unseres Ich. Und die bestimmt kein Pranger mehr, keine „Schamkultur“, die bestimmen wir selbst. Das ist die Gewissens-Scham. Wir empfinden sie, wenn wir den eigenen Maßstäben nicht genügen.

Oder kehren die alten Schamformen zurück? Die sozialen Medien sind gerade dabei, den Pranger digital neu zu erfinden. Beschämung des Gegenübers als Ersatz fürs Argument wird wieder zum Mittel der Wahl.

Für Satiren wird längst niemand mehr mit Blumen beworfen. Zwar sind die faulen Eier, die Steine und das Fallobst nur noch digital, aber die Werfenden sind viel mehr.

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