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Moderator Stephan-Andreas Casdorff mit (vl.) Kristina Böhm (Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte im ÖGD), Berthold Koletzko (Sitftung Kindergesundheit), Kornell Adolph (AOK Plus) und Han Steutel (Verband forschender Pharmahersteller).

© Steffen Junghanss

„Das Handwerkszeug ist da, wir müssen es nur nutzen“: So verlief der Tagesspiegel-Impfgipfel

Beim dritten Tagesspiegel-Impfgipfel debattierten Fachmänner und Fachfrauen, wie die Impfquoten gesteigert werden können – und welche Routine sich aus der Pandemie ableiten lässt.


Ein großes Wort, doch es stimmt ja: „Beim Impfen geht, sind wir alle eine „Schicksalsgemeinschaft“, so Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff zur Eröffnung des Tagesspiegel- Impfgipfels am vergangenen Donnerstag im Verlagshaus am Askanischen Platz. Klar, je mehr Menschen sich impfen lassen, desto mehr werden auch andere mitgeschützt – und das gilt bei Weitem nicht nur für Covid-19, sondern auch für die vielen anderen Infektionskrankheiten, die sic vermeiden, ja ausrotten ließen – wenn sich nur genügend Menschen impfen lassen würden.

Die Quoten sind zu niedrig

Das war auch dieses Jahr der leitende Gedanke des inzwischen dritten Tagesspiegel-Impfgipfels: Die Impfquoten sind zu niedrig, bei der Influenza lässt sich gerade mal die Hälfte der über 60-Jährigen immunisieren. Wie schaffen wir es, die stagnierenden Quoten zu steigern, welche Hindernisse liegen im Weg, welche Rolle kann dabei die Digitalisierung spielen? Ein wichtiger Schritt dürfte die Gründung des Nationalen Aktionsbündnisses Impfen und die Erarbeitung eines Code of Conduct, eines Verhaltenskodex für alle Mitglieder dieses Plattform, vor einem Jahr gewesen sein.

Wir sind sehr gut unterwegs, rund 100 Impfstoffe sind derzeit in Entwicklung

Han Steutel, Präsident des Verbands forschender Pharmaunternehmen

Heidrun Thaiss, bis 2021 Leiterin der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung und jetzt Wissenschaftliche Leiterin des Aktionsbündnisses, skizziert, was seither passiert ist: So konnte im Rahmen von Modellversuchen die Grippeschutzimpfung in Apotheken ausgebaut werden, der Verband forschender Pharmaunternehmen – dessen Präsident Han Steutel auch dieses Jahr wieder beim Impfgipfel dabei war – hat einen Ausschuss „Impfstoffe“ gegründet. Rund 100 Stoffe seien derzeit in der Entwicklung, berichtet Steutel, davon 29 gegen Covid, die übrigen gegen andere Infektionskrankheiten wie Streptokokken und sogar HIV. „Da sind wir sehr gut unterwegs“, so Steutel.

V.l.: Thomas Fischbach (Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte), Kristina Böhm (Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte im ÖGD) und Berthold Koletzko (Stiftung Kindergesundheit) im Gespräch beim Tagesspiegel-Impfgipfel.
V.l.: Thomas Fischbach (Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte), Kristina Böhm (Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte im ÖGD) und Berthold Koletzko (Stiftung Kindergesundheit) im Gespräch beim Tagesspiegel-Impfgipfel.

© Steffen Junghanss

Allerdings würden zögerliche und abwartende Haltungen sowie Partikularinteressen die Arbeit des Nationalen Aktionsbündnisses auch erschweren, gibt Heidrun Thaiss zu. Zwei Mitglieder seien ausgestiegen. „Doch ich bin Optimistin und habe die Hoffnung nicht verloren, dass sie zurückkehren.“. Mit der prominenten Ärztin und Buchautorin Marianne Koch oder der Stiftung Kindergesundheit konnten auch neue Mitglieder gewonnen werden. Generell will das Aktionsbündnis stärker an die Öffentlichkeit gehen und auch mit Bildungseinrichtungen, mit Grund- und weiterführenden Schulen zusammenarbeiten. Oder auch mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum zu HPV-Impfung. „Als Kinderärztin würde ich sagen: Wir sind den Kinderschuhen noch nicht entwachsen, aber auch einem guten Weg“, so das Fazit von Heidrun Thaiss.

Wie also schaffen wir die Rahmenbedigungen für ein proaktives Gesundheitssystem? Welche Routine lässt sich aus der Pandemie ableiten? „Das Handwerkszeug ist im Prinzip schon da, wir müssen es nur intensivieren“, so Kristina Böhm vom Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Sie bezieht sich damit vor allem auf die zahlreichen Untersuchungszyklen von Kleinkindern und Jugendlichen, bei denen die Impfquoten noch sehr gut seien – „erst ab 16 Jahren sehen wir erste Lücken“, sagt Böhm und empfiehlt: „Ansprechen, sensibilisieren, intensivieren.“ Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit, ist nicht so optimistisch, was die Jugendlichen angeht: „Auch bei den Jüngeren sind die Quoten nicht okay“. Außerdem hätten wir in Deutschland eine verzettelte, nur punktuell erhobene Datenbasis, wie sie für ein westliches Industrieland eigentlich ungewöhnlich sei.

Ziele zu definieren ist nicht so entscheidend wie die tägliche Routine“

Ulf Zitterbart, Deutsche Hausärzteverband

Judith Klose vom Meinungsforschungsinstitut Civey injiziert während des Gipfels immer wieder interessante Zahlen in die Diskussion. So sind Freunde und Bekannte – anders als man erwarten würde – offenbar für die Entscheidung Pro oder Contra Impfen deutlich weniger relevant (10 Prozent) als die Empfehlung der Hausärzte (51 Prozent), der „stillen Helden“ (Casdorff). Von denen ist einer anwesend: Ulf Zitterbart, stellvertretender Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes. Die allgemeine Impffreudigkeit habe 2021 deutlich zugenommen, berichtet er – und sagt ganz pragmatisch: „Ziele zu definieren ist nicht so entscheidend wie tägliche Routine.“ Zu der gehöre in seiner Praxis ein digitalisiertes Ampelsystem: Rot bedeutet, dass der Patient eine Impflücke habe. Die vielbeschworene Digitalisierung in der Medizin, hier ist sie längst Realität.

Was Civey auch erhoben hat: Größtes Ärgernis in der Pandemie waren für die Mehrheit der Befragten widersprüchliche Informationen zu Impfstoffen. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen von Thomas Mertens, der als Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko) digital zugeschaltet war: „Viele Politiker haben ein dringendes Bedürfnis, sich zu äußern. Das ist ja im Prinzip nicht schlecht. Aber wenn ein per Gesetz beauftragtes Gremium wie die Stiko mit größtem Arbeitsaufwand Impfempfehlungen erarbeitet, ist es natürlich ungünstig, wenn ständig Einzelmeinungen geäußert werden.“ Muss sich die Stiko modernisieren, mehr Menschen ansprechen? Mertens: „Teilweise tun wir das schon, dennoch ist es nicht unsere primäre Aufgabe, Sachverhalte der Bevölkerung zu erklären.“

Es bleibt also weiterhin viel zu tun. Das Nationale Aktionsbündnis Impfen freut sich über weitere Mitstreiter, die Kontaktaufnahme ist denkbar einfach: Mail an heidrun.thaiss@tum.de. „Allerdings sollte sich jeder, der mitmachen möchte, schon im Vorfeld überlegen, was er oder sie beitragen kann“, so Thaiss. Wenn jeder in seinem Tätigkeitsbereich versucht, das Optimum zu tun, kommen alle am Ende am schnellsten voran. Udo Badelt

Der komplette Impfgipfel kann im Stream angesehen werden unter veranstaltungen.tagesspiegel.de/impfgipfel-2022

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