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Martin Terhardt ist Kinder- und Jugendarzt in Neukölln und Mitglied der Ständigen Impfkommission.

© Sebastian Leber

Gespräch mit Stiko-Mitglied Martin Terhardt: „Bei uns geht Sorgfalt vor Tempo“

Die Ständige Impfkommission (Stiko) erlangte in der Pandemie ungeahnte Prominenz und wurde für ihre Langsamkeit kritisiert. Ein Gespräch mit Mitglied Martin Terhardt über die Arbeit im Alltag und im Corona-Ausnahmezustand.

Kaum einer hat den runden Geburtstag zur Kenntnis genommen: Die Ständige Impfkommission (Stiko) wird in diesem Jahr 50. Das unabhängige, ehrenamtliche Expertengremium wurde 1972 beim damaligen Bundesgesundheitsamt eingerichtet und aufgrund der Bedeutung seiner Empfehlungen 2001 mit dem Infektionsschutzgesetz gesetzlich verankert. Seit 2007 sind die von der Stiko empfohlenen Impfungen Grundlage für die Schutzimpfungs-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses und damit Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Ihr Einfluss ist also beträchtlich, doch medial so präsent und im Kreuzfeuer der Kritik wie seit der Zulassung der ersten Impfstoffe gegen Covid im Dezember 2020 war sie zuvor nie. Im Gespräch gibt Stiko-Mitglied Martin Terhardt Einblick in die Arbeit der Expertengruppe.

Herr Terhardt, die Stiko erarbeitet Empfehlungen für den Einsatz von Impfstoffen, die bereits eine Zulassung haben. Bei den Covid-Impfstoffen mahnten Politiker und Medien in einigen Fällen mehr Tempo an. Wofür brauchen Sie die Zeit?
Qua Gesetz sind wir in unserer Geschäftsordnung den Kriterien der evidenzbasierten Medizin verpflichtet. Wir sichten wissenschaftliche Literatur zur Krankheitslast in den Bevölkerungsgruppen, zur Wirksamkeit der Impfstoffe, meist im Vergleich zu Placebo, und zu ihrer Unbedenklichkeit. Neben dem individuellen Nutzen-Risiko-Verhältnis geht es auch um die Bevölkerungsebene, um die Effekte einer flächendeckenden Impfstrategie. Ein weiterer Grund: Bei den Covid-Impfstoffen war die Datenlage erst begrenzt. Auch die Impfstoffe selbst waren knapp, so dass Priorisierung gefragt war. Für diese auch für uns neuartige Arbeit brauchte es Sorgfalt, und bei uns geht Sorgfalt vor Tempo.

Sie sind Kinder- und Jugendarzt, können Sie uns das am Beispiel der Covid-Impfungen für Kinder und Jugendliche konkret erläutern?
Die Impfstoffe waren ja primär ab 16 Jahren zugelassen, dann kamen Erweiterungen aufgrund zusätzlicher Studien. Schwere Impfkomplikationen wie Herzmuskelerkrankungen waren aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht so sicher zu beurteilen, wie wir es gebraucht hätten. Insofern standen wir vor schwierigen Abwägungen, da der größte Teil dieser jungen Menschen ja kein hohes Risiko für schwere Erkrankungen trägt. Wir haben deshalb erst einmal eine Empfehlung für Kinder mit höherem Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf ausgesprochen. Dieses Vorgehen konnten wir uns auch deshalb erlauben, weil die Krankheitslast zu diesem Zeitpunkt in Deutschland deutlich niedriger war als etwa in USA, wo die Not deutlich größer war. Erst nachdem die Risiken der Herzmuskelentzündungen nach Impfung beziehungsweise nach Sars-CoV-2-Infektion bei den 12- bis 17-Jährigen besser beurteilbar waren, haben wir die Impfempfehlung auf gesunde 12-17-Jährige ausgeweitet. Das würde ich im Nachhinein wieder tun.

Bei Kindern war Impfziel ein hybrider, aus Infektion und Impfung zusammengesetzter Immunschutz

Martin Terhardt, Ständige Impfkommission

Was kleinere Kinder zwischen 5 und 11 betrifft, stellte sich später die Situation noch einmal anders da: Als Impfstoffe für diese Altersgruppe zugelassen wurden, hatten wir den Peak der Delta-Variante erlebt, es gab zudem Erkenntnisse zum höheren Risiko für die Multiorgan-Entzündungskrankheit PIMS für diese Altersgruppe, die als Folge von Covid-19 auftreten kann. Wir haben auch da erst eine Empfehlung für die Risikokinder ausgesprochen und später im Verlauf der Omikron-Welle die Empfehlung für eine einmalige Impfung auch der gesunden Kinder, weil die Meldezahlen und Antikörper-Bestimmungen in Studien den Schluss zuließen, dass ein Großteil der Kinder zu diesem Zeitpunkt schon einmal infiziert war. Impfziel war hier erstmals ein guter hybrider, also aus Infektion und Impfung zusammengesetzter Immunschutz. Das zu kommunizieren war aber schwierig, die Empfehlung ist fast nicht angenommen worden, nur 22,7 Prozent der Kinder in der Altersgruppe sind bisher einmal geimpft.

Innerhalb der EU sind die Impfpläne generell recht unterschiedlich. Wäre hier nicht eine Abstimmung denkbar, auch beim „ganz normalen“ Impfkalender für Babys, Kinder, Jugendliche und Erwachsene?
Nationale Impfempfehlungen fußen auf Entscheidungen, die sich die Länder wohl noch nicht gern von der EU abnehmen lassen. Dennoch findet Zusammenarbeit statt, vor allem bei der Erhebung wissenschaftlicher Evidenz und dem Austausch darüber. In der Vergangenheit haben übrigens viele europäische Länder von der sorgfältigen Arbeit der Stiko und des RKI profitiert. Unsere Begründungspapiere umfassen ja meist 50 bis 60 Seiten, mit umfangreichem Literaturverzeichnis. Beispiele dafür aus jüngerer Vergangenheit sind Empfehlungen für Impfungen gegen Gürtelrose, Pneumokokken, Rotavirus.

Wie viel zeitlichen Vorlauf haben diese Empfehlungen?
Meist liegen eineinhalb bis zweieinhalb Jahre zwischen dem Beginn der Beratung in einer Arbeitsgruppe und der Empfehlung durch die Stiko. Es kann auch passieren, dass in einem solchen Prozess eine Impfung nicht empfohlen wird, etwa vor Jahren der Lebend-Impfstoff gegen Gürtelrose. Inzwischen haben wir einen von der Stiko empfohlenen Tot-Impfstoff.

Wie haben Sie es geschafft, bei Covid so viel schneller zu sein?
Durch viel mehr Arbeit aller Beteiligten! Wir ehrenamtlichen Stiko-Mitglieder haben uns neben unserer Arbeit in unseren normalen Berufen, die ja die Grundlage für unsere jeweiligen fachlichen Blickwinkel auf Impfungen bilden, teilweise wöchentlich online getroffen, zusätzlich viele Studien gelesen und Texte redigiert. Außerdem hatten wir großartige Unterstützung aus der kleinen RKI-Geschäftsstelle der Stiko. Inzwischen sind dort zusätzliche Ressourcen geschaffen worden in Form von wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen und Modellierern, die wir für unsere Entscheidungen dringend brauchen. Man muss aber auch sagen, dass in den letzten zwei Jahren wegen der Covid-Pandemie bei uns sehr viel Arbeit zu anderen Impfungen liegen geblieben ist.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft, auch bei möglichen neuen Pandemien?
Eine bessere Erhebung und Verknüpfung von Daten, um schnell zu erfassen, wie sich die Krankheitslast verändert, und um Impfkomplikationen besser zuzuordnen. Für die Stiko wünsche ich mir genügend Valenzen, um auf alle Eventualitäten schnell reagieren zu können. Ehrlich gesagt wünsche ich mir auch weniger Schlagzeilen, die Konflikte zwischen Stiko und Politik hochspielen. In der Politik war man sich teilweise uneinig, hat auf Empfehlungen der Stiko gewartet und dieses Warten nicht gut ausgehalten. Ich habe aber die Hoffnung, dass die Pandemie zum gegenseitigen Verständnis beigetragen hat. Es geht ja auch darum, das Vertrauen zumindest bei einigen Impfskeptikern zurückzugewinnen.

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