zum Hauptinhalt

Gesundheit: Scham

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

Jüngst wurde in den ägyptischen Medien die Frage debattiert, ob eine Ehe ungültig geworden sei, wenn sich die Ehepartner einmal so nackt, wie sie Gott erschaffen habe, angesehen hätten – das meinte jedenfalls ein prominenter Rechtsgelehrter aus Kairo, dem Kollegen freilich heftig widersprachen. Entsprechende Versuche, auch zwischen Ehepartnern Schamgrenzen aufzurichten, gibt es natürlich nicht nur in der muslimischen Welt.

Im Abendland wurde allerdings eher über die Zeit vor der Ehe diskutiert: Dem Ratschlag des Thomas Morus im sechzehnten Jahrhundert, dass Heiratswillige sich vor der Ehe einmal gänzlich nackt sehen sollten, hat Francis Bacon im folgenden Jahrhundert sehr heftig widersprochen: Es sei eine Schande, wenn einer nach einem so intimen Kontakt abgewiesen werde. Derartige Debatten empfinden die meisten Menschen am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts als reichlich antiquiert und sind mit Recht stolz darauf, dass viele falsche Schamgrenzen im letzten Jahrhundert gefallen sind. Dass ein Tübinger Studentenwohnheim noch zu meinen Studienzeiten schriftlich von seinen Bewohnern Enthaltsamkeit in Zeiten „bedrohlicher sexualethischer Verwirrung“ forderte, wurde auch unter etwas konservativeren Zeitgenossen mit Belustigung weitererzählt.

Aber ganz so einfach ist es mit der Scham, dem tief emotionalen Gefühl, etwas an sich zu haben, an dem andere Anstoß nehmen könnten, nicht. Denn natürlich gibt es eine lebensnotwendige Scham. Gestern nahm ich die Personalakte eines Dozenten zur Hand, dem der Reichserziehungsminister 1936 die Privatdozentur entzogen hatte – auf dem brüchigen Deckel sind die Worte „Lehrerlaubnis entzogen“ vermerkt, damit jeder sofort Bescheid wusste, was Sache war. Der Dozent hieß Dietrich Bonhoeffer, und mich erfüllt die Tatsache, dass es meine eigene Universität war, die diese Entscheidung willig vollstreckte, mit Scham. Dozenten und Studenten wurden entlassen; manche wie Reich-Ranicki durften nicht einmal beginnen zu studieren. Scham lässt uns am eigenen Leib erfahren, dass die Würde einer Person in Gefahr ist oder längst beschädigt worden ist. Eine Gesellschaft, die auf solche emotionalen Warnsignale bedrohter Menschenwürde nicht mehr achtet, gefährdet ihren Bestand. Umso wichtiger ist es aber auch, keine falsche Scham zu kultivieren oder gar zu propagieren.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false