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Auch König Charles hat Lily Ebert bereits empfangen.

© Foto: Imago

Holocaust-Überlebende auf Tiktok: „Ich überlebte die Hölle und nun kläre ich die Welt auf“

Singen, lachen, tanzen: Tiktok ist für seine Unterhaltung bekannt. Eine 98-Jährige aber kämpft dort gegen Antisemitismus – und hat fast zwei Millionen Follower.

Lily Ebert sitzt mit rosa Bluse und Strohhut im Garten. Die Sonne scheint, ein leichter Wind weht – die Welt scheint in Ordnung zu sein. Doch das Thema, über das Ebert im Tiktok-Video spricht, erinnert an düstere Zeiten. „Meine Nummer ist A-10572“, sagt die heute 98-Jährige mit ernster Stimme. „Das ist, was ich war. Wir hatten keinen Namen, wir waren keine Menschen. Wir wurden nur wie Nummern behandelt.“

Ebert ist Holocaust-Überlebende und wurde 1923 in Ungarn geboren. Als junge Frau kam sie im Alter von 21 Jahren ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, dort verlor sie ihre Mutter und zwei Geschwister. Sie selbst gelangte nach der Befreiung durch die Alliierten über die Schweiz und Israel nach England, wo sie noch heute wohnt. „Ich überlebte die Hölle und nun kläre ich die Welt über den Holocaust auf“, erklärt Ebert ihren Antrieb auf Tiktok.

Die zehnfache Oma und 35-fache Uroma widmete bereits ihr gesamtes Leben der Aufklärung über den Holocaust. Nun aber versucht Ebert seit einiger Zeit, gezielt das junge Publikum zu erreichen – mithilfe des Videoportals Tiktok. Denn insbesondere für Teenager ist die chinesische Videoplattform mittlerweile das wichtigste soziale Medium. In den Kurzclips tanzen, singen und lachen die Jugendlichen um die Wette.

Lily Ebert hat 1,9 Millionen Follower

© Foto: Tiktok/ Screenshot Tsp

Der Fantasie sind dabei keinerlei Grenzen gesetzt, einzige ungeschriebene Regel: Die Videos müssen lustig und unterhaltsam sein. Eine Studie von Media Perspektiven aus dem Jahre 2021 etwa kommt zu dem Ergebnis: „Im Fokus von TikTok stehen Unterhaltung, Spaß und Zeitvertreib, Informationen und Politik sind nicht unbedingt gewünscht, denn diese Genres passen nicht gut zur Kurzweiligkeit und der Unbeschwertheit, die die Plattform verspricht.“

Wie also erreicht Lily Ebert mit ihren ernsten Videos zu Antisemitismus 1,9 Millionen Follower und mehr als 32 Millionen Likes? Dies liegt vor allem daran, dass sie es schafft, ernste Botschaften mit der sonst so fröhlichen Tiktok-Welt zu verbinden. So erzählt Ebert auf ihrem Kanal einerseits von ihren Erinnerungen aus dem Konzentrationslager, berichtet über die Verbrechen der NS-Herrschaft oder klärt über jüdische Feste auf. Andererseits aber finden sich auf ihrem Kanal auch Videos, in denen sie singt, backt, auf Hochzeiten feiert oder im Zoo wilde Tiere bestaunt.

Dabei ist Ebert nicht die einzige Holocaust-Überlebende, die auf Tiktok gegen Judenhass eintritt. Auch der 87-jährige Gidon Lev, der Ende 1941 im Alter von sechs Jahren nach Theresienstadt deportiert wurde, ist seit Sommer 2021 auf Tiktok aktiv, um seine Geschichte zu erzählen – und erreicht mehr als 400.000 Fans und über sieben Millionen Likes.

Tiktok ist gefährlicher als andere Plattformen wegen seines jungen und leichtgläubigen Publikums

Gabriel Weimann, Reichman Universität

Mittlerweile haben selbst einige KZ-Gedenkstätten einen eigenen Tiktok-Auftritt. Besonders erfolgreich dabei ist die Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg, die seit November 2021 auf der Plattform aktiv ist und knapp 27.000 Follower hat. Damit erreicht sie nach eigenen Angaben ein größeres Publikum als mit jedem anderen Onlineauftritt.

Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland befürwortet, auf Tiktok gegen Antisemitismus einzutreten. „Junge Menschen müssen dort abgeholt werden, wo sie ihre Zeit verbringen und das sind meist die sozialen Netzwerke“, sagt Josef Schuster dem Tagesspiegel. Da es mittlerweile immer weniger Zeitzeugen gebe, „können über diese Plattformen viele erreicht werden, die sonst niemals einen Überlebenden der Schoa zu Gesicht bekommen hätten“, erklärt der Präsident des Zentralrates der Juden.

Die Anzahl der antisemitischen Inhalte ist um 912 Prozent gestiegen

Doch Tiktok nutzen nicht nur Holocaust-Überlebende – sondern auch Personen, die ebendiesen leugnen. Denn wie andere soziale Netzwerke ist die Videoplattform anfällig für Hassrede und Desinformation. Auch Schuster beklagt, dass „dort Verschwörungserzählungen grassieren, die häufig antisemitische Züge haben“. Dies kann dazu führen, dass judenfeindliches Gedankengut – im typisch tanzenden Tiktok-Style – verharmlost und salonfähig gemacht wird.

Mitte 2020 beispielsweise inszenierten sich einige Nutzerinnen und Nutzer auf Tiktok als Holocaust-Opfer. Dabei spielten sie eine Art Rollenspiel, bei dem sie sich verkleideten und so taten, als seien sie im Himmel. Einige der Videos erreichten mehr als 100.000 Likes. Teilnehmer erklärten, die Aktion habe das Bewusstsein für den Holocaust stärken sollen.

Dennoch gab es großes Unverständnis, das Auschwitz Museum etwa erklärte, dass die Videos als „verletzend und beleidigend“ wahrgenommen werden könnten. Wie anfällig Tiktok generell für Antisemitismus ist, zeigt eine Studie von zwei israelischen Forschern aus dem Jahre 2021.

Darin kommen sie zum Ergebnis, dass die Anzahl an antisemitischen Inhalten auf Tiktok innerhalb eines Jahres um 912 Prozent gestiegen ist. Die Anzahl an antisemitischen Benutzernamen stieg in dem Zeitraum gar um 1375 Prozent. Auch weiterhin lassen sich Usernamen wie beispielsweise „holocaustwasgood“ oder „nazisupporter“ finden.

„Tiktok ist noch gefährlicher als andere Plattformen wegen seines jungen und leichtgläubigen Publikums, wegen seines schnellen Wachstums und wegen seiner globalen Reichweite“, sagt der israelische Professor Gabriel Weimann von der Reichman Universität dem Tagesspiegel. Die Studie zeigt den schmalen Grat, auf dem Nutzerinnen und Nutzer wandern, wenn sie auf Tiktok über den Holocaust berichten.

Diese Gratwanderung scheint Lily Ebert wie nur wenige zu beherrschen. Seit über 75 Jahren trägt sie „A-10572“ auf ihrem linken Unterarm. Hat sie jemals überlegt, sich das Tattoo entfernen zu lassen? „Nein, darüber habe ich nie nachgedacht. Es macht einen großen Unterschied, ob man etwas tatsächlich sehen kann oder nur davon hört.“ Auf Tiktok jedenfalls ist Ebert beides: sicht- und hörbar.

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