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Versperrter Latschin-Korridor: Wissenschaftler sprechen von einer „erheblichen Genozidgefahr“.

© dpa/Gilles Bader

Droht ein Genozid in Bergkarabach?: Die Welt lässt die Armenier hungern – aufgrund eigener Interessen

Seit Dezember blockiert Aserbaidschan die einzige Landverbindung nach Bergkarabach. Dass Russland und der Westen wenig dagegen tun, hat auch mit dem Ukraine-Krieg zu tun.

Ein Gastbeitrag von Tessa Hofmann

Die Worte des Präsidenten Bergkarabachs, das bisher international nicht als unabhängiger Staat anerkannt ist, waren drastisch: „Aserbaidschan begeht in einem großen Konzentrationslager Völkermord!“ Das sagte er Anfang August in einem Fernsehinterview. Aserbaidschan blockiert seit Dezember 2022 den Latschin-Korridor, die einzige Landverbindung zwischen Bergkarabach und Armenien.

In Bergkarabach leben 120.000 ethnische Armenier. Sie leiden unter der schrittweise verschärften Hungerblockade. Unter ihnen sind 30.000 Kinder, 20.000 ältere Menschen, 9.000 Behinderte sowie 2.000 Schwangere. 

Seit Mitte Juni verhindert Aserbaidschan die Zufuhr von Medikamenten, Nahrungsmitteln und Treibstoff durch das Internationale Rote Kreuz sowie die in der Republik Arzach – wie Bergkarabach auf Armenisch heißt – stationierten russischen Friedenstruppen.

Der Treibstoffmangel erschwert die landwirtschaftliche Produktion erheblich, außerdem die Versorgung von Behinderten und Kranken sowie den Schulunterricht. Der öffentliche Nahverkehr musste eingestellt werden. Die Zahl der Früh- und Fehlgeburten hat sich verdreifacht. Am 15. August verhungerte ein 40-jähriger Einwohner der Hauptstadt Stepanakert.

Organisationen von Genozidforschenden, darunter das Lemkin Institute für Genocide Prevention und die International Association of Genocide Scholars, warnen vor einer „erheblichen Genozidgefahr“ für Armenier in der Region. Diese Einschätzung bestätigt der frühere Erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, in seinem kürzlich veröffentlichten Gutachten.

94
Prozent der Bevölkerung Bergkarabachs waren Armenier, als es 1921 Aserbaidschan zugeschlagen wurde.

Die totale Blockade soll die armenische Bevölkerung dazu zwingen, die aserbaidschanische Herrschaft zu akzeptieren, oder sie in die Flucht treiben. Das autoritäre Alijew-Regime nimmt dabei sogar die physische Vernichtung in Kauf. In seiner Ansprache an die Nation im Oktober 2020 bezeichnete der aserbaidschanische Präsident llham Alijew die Bergkarabach-Armenier als „Hunde, die man aus Bergkarabach verjagen” müsse.

Ein Erbe der Sowjetunion

Es ist ein Konflikt, den eine untergegangene Großmacht gesät hat. Im Jahr 1921 versprachen die Sowjets erst Armenien Bergkarabach, das damals zu 94 Prozent von Armeniern bewohnt war. Nur einen knappen Monat darauf schlugen sie es Aserbaidschan zu, das die Region wirtschaftlich und kulturell 70 Jahre lang vernachlässigte. 

Erst beim Zerfall der Sowjetunion gelang den Bergkarabach-Armeniern die Abspaltung von Sowjetaserbaidschan, woraufhin ein De-facto-Staat entstand. Das postsowjetische Armenien wagte allerdings nicht, die entstandene Republik als unabhängigen Staat anzuerkennen, geschweige denn seinen Anschluss.

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© Rita Boettcher

Die Staatsführung in Jerewan befürchtete, sich damit international zu isolieren und zum Beispiel vom Internationalen Währungsfonds keine Kredite mehr zu erhalten. Armenien wollte offiziell als neutraler Staat auftreten und nicht als Konfliktpartei.

Aserbaidschan wiederum versuchte von 1991 bis 1994 Bergkarabach militärisch erneut unter seine Kontrolle zu bringen und die Armenier loszuwerden. 40.000 Menschen starben dabei, davon 23.000 überwiegend zivile Armenier.

Nach 16 Jahren der Aufrüstung, zuletzt vor allem mit israelischen und türkischen Drohnen, gelang Aserbaidschan im zweiten Karabachkrieg 2020 die Einnahme eines Gebietsdrittels; über 3.800 armenische sowie über 2.900 aserbaidschanische Soldaten fielen.

Von internationalen Verhandlungen ausgeschlossen

Seither wetteifern Russland, die EU sowie die USA als Friedensstifter zwischen den vermeintlichen Kriegsparteien Armenien und Aserbaidschan. Die betroffenen Bergkarabach-Armenier sind von den Verhandlungen ausgeschlossen.

Nicht zum ersten Mal: Sie waren bereits im Herbst 1997 auf Vorschlag des damaligen Präsidenten der Republik Armenien, Lewon Ter Petrosjan, als gleichberechtigte Verhandlungspartner aus der Minsker Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ausgeschlossen worden. Sein Argument: Ohne Bergkarabach am Tisch käme man schneller zu Ergebnissen.

Der Ukrainekrieg verändert die Lage

Russland galt bislang als Schutzmacht der Armenier, doch das ändert sich gerade. In der internationalen Politik hat nämlich Aserbaidschan an Bedeutung gewonnen – auch für Russland.

Der Grund ist Gas: Aserbaidschan ist sowohl selbst Lieferant als auch wichtiger Umschlagplatz für russisches Erdgas und Öl. Infolge des Ukrainekriegs und der gegen Russland verhängten Sanktionen wollen sowohl der Westen als auch Moskau selbst das Land am Kaspischen Meer an sich binden.

Außerdem möchte Russland wohl verhindern, dass Aserbaidschan – ein Bruderstaat der Türkei – sich der Nato annähert. Bislang setzt das Land auf Blockfreiheit und ist nicht Mitglied des von Russland geführten Verteidigungsbündnis OVKS („Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“), dem wiederum Armenien angehört.

Hinzu kommt, dass die zunehmend prowestliche Orientierung des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan Moskau verärgert.

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