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Bei Hochzeiten muss gespart werden: Ein Brautpaar feiert in der U-Bahn, was seit einigen Jahren erlaubt ist.

© dpa/Tolga Bozoglu

Kein Urlaub, kein Fleisch und Billighochzeiten: Die Hyperinflation zwingt die Türkei in die Krise

Viele Türken müssen sich bei einer Teuerungsrate von 84 Prozent im Jahr extrem einschränken. Dennoch ist kaum Wut auf Präsident Erdogan zu spüren.

Das Licht einer milden Herbstsonne fällt in das Gewirr der Marktgassen im Zentrum der westtürkischen Metropole Izmir. Kleiderhändler, Schuhläden, Brautausstatter, Lederwarengeschäfte, Imbissbuden und Juweliere drängen sich hier aneinander, aber Kunden gibt es kaum. „Sehen Sie mal, wie leer der Markt ist, fast menschenleer“, sagt der Händler Murat. „Früher war das anders, da drängten sich die Leute hier. Jetzt kommt keiner mehr.“

Bei 84,4 Prozent lag die Jahresinflation in der Türkei im November, wie das Statistikamt jetzt mitteilte; die unabhängige Expertengruppe Enag beziffert die Geldentwertung sogar auf 171 Prozent. Die Inflation zwingt Normalbürger in Izmir und anderswo im Land in einen Krisenmodus aus Verzicht, Einschränkungen und kleinen Schummeleien.

Seit drei Tagen hat kein Kunde mehr das Kleidungsgeschäft der 54-jährigen Sidika im Marktviertel betreten. Wenn mal jemand auftaucht, ist das nicht unbedingt eine gute Nachricht: „Da kommen Deutschtürken, die auf Urlaub hier sind, die wollen nur den halben Preis bezahlen und ziehen uns so immer noch weiter runter.“

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Sidika selbst kann sich keinen Urlaub mehr leisten. Letztes Jahr war sie drei Tage im Ferienort Kusadasi, etwa anderthalb Autostunden südlich von Izmir. Heute bereut sie es. „Ich zahle immer noch die Raten ab. Wie viel Geld dafür draufgegangen ist, und dabei war es kein Luxusurlaub.“

Mieten, Energie, Lebensmittel – alles wird ständig teurer. „In den Supermärkten wechseln sie dauernd die Preisschilder aus, am laufenden Band“, sagt Sidika.

Selbst Grundnahrungsmittel seien mittlerweile unerschwinglich, berichtet die Rentnerin Belgin, die auf dem Markt jobbt, weil ihre Rente zum Leben nicht reicht. „Wir essen kein Fleisch mehr und nur den billigsten Fisch“, erzählt sie. „In unserem Mietshaus gibt es Gasheizung, aber die macht keiner mehr an, wir heizen alle mit Holzofen.“

280
Euro staatlicher Mindestlohn reichen nicht mehr in der Türkei.

Millionen Türken müssen mit dem staatlichen Mindestlohn von umgerechnet 280 Euro im Monat auskommen, der von der Regierung seit letztem Dezember schon zweimal kräftig angehoben wurde, um die Kaufkraft der Türken zu schützen. Im Januar steht eine neue Anhebung an; Medien spekulieren über eine Verdopplung auf über 500 Euro, schließlich will Präsident Recep Tayyip Erdogan die Wahlen im nächsten Jahr gewinnen.

Doch zumindest bisher frisst die Inflation alle Einkommensverbesserungen schnell wieder auf. Nach Berechnungen des Gewerkschaftsverbandes Türk-Is liegt die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie inzwischen bei rund 1300 Euro im Monat. Mit nur einem Verdienst wird es eng für einen Haushalt mit Kindern.

Um einigermaßen über die Runden zu kommen, überziehen viele Türken ihre Kreditkarten und legen sich neue Karten zu, um die Schulden bei den anderen bezahlen zu können. Bei mehr als einer halben Million Kreditkartenkunden droht nach Einschätzung des Bankenverbandes die Zahlungsunfähigkeit.

Es heiratet ja niemand hier – kann sich ja keiner mehr leisten.

Boutique-Verkäuferin Neslihan in Izmir

Der Sparzwang betrifft sogar wichtige Entscheidungen im Privatleben. Ein Passant sagt, er habe seinen Kindern die Nachhilfe gestrichen. Der Markthändler Murat ist Junggeselle – er kann es sich nicht leisten, eine Familie zu gründen. Die 29-jährige Boutique-Verkäuferin Neslihan hat beobachtet, dass besonders Festkleider in den Regalen bleiben: „Es heiratet ja niemand mehr – kann sich ja keiner leisten.“

Mit Galgenhumor zählt Neslihan auf, nach welchen Kriterien sie selbst nach einem Mann sucht. „Reich soll er sein und gut aussehen, und er darf gerne aus dem Ausland kommen – den bestelle ich hiermit.“

Ein relativ leerer Straßenmarkt: Die Menschen müssen sparen.

© dpa/ Francisco Seco

Gibt es doch einmal eine Hochzeit, wird auch dabei gespart. Die Kosten für Hochzeitssäle, die in der Türkei für große Feiern angemietet werden, sind so stark gestiegen, dass viele Paare die teuren Wochenenden für ihre Vermählung meiden und auf die billigere Wochenmitte ausweichen, wie die Rentnerin Belgin beobachtet hat. Traditionell überreichen Hochzeitsgäste bei den Feiern Goldmünzen als Geschenk. Weil Gold für viele zu teuer sei, würden nun häufig billige Imitate verschenkt, sagt Belgin.

Erdogans AKP bleibt stärkste Kraft

Trotz der vielen Probleme ist im Marktviertel kaum Wut auf die Regierung zu spüren. Erdogans Regierungspartei AKP bleibt trotz der Rekordinflation in den Umfragen stärkste politische Kraft. Viele Türken trauen ihm eher als der Opposition zu, die Krise in den Griff zu bekommen.

Finanzminister Nureddin Nebati feierte die neuen Zahlen als Erfolg, weil die Inflation von 85 Prozent im Oktober leicht auf 84 Prozent zurückging. Allerdings musste er einräumen, dass die Linderung zumindest zum Teil am sogenannten Basiseffekt lag: Weil die Inflation im November 2021 stark anzog, veränderte sich die Berechnungsgrundlage für die neuen Werte, die dadurch günstiger ausfielen. Billiger wird der Alltag für die Türken vorerst nicht. Bald würden die Verbraucher aber am eigenen Geldbeutel spüren können, dass sich die Lage entspanne, versprach Nebati.

Die zum großen Teil regierungstreuen Medien berichten tagtäglich, anderswo auf der Welt sei es auch nicht besser mit der Inflation, und in Europa seien die Regale in den Supermärkten leer. In der Türkei dagegen gebe es weiterhin alles zu kaufen, sagt Erdogan, und zumindest ein Marktbesucher glaubt es ihm: „Ihr seid doch nur neidisch auf uns.“

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