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Auch Ungarns größte Zeitung Nepszabadsag musste dichtmachen - hier eine Solidaritätsdemonstration von 2016 in Budapest.

© picture alliance/AP Photo/Balazs Mohai/MTI

Medienfreiheit in Europa: Wie Ungarn Schule macht

Neue Regeln aus Brüssel sollen Regierungen daran hindern, Medien an die Leine zu legen. Doch sie führt am Kern der Probleme vorbei – korrupten Regierungen.

Von Marius Dragomir

Als das ungarische Parlament 2010 mit einem neuen Mediengesetz eine Reihe von Beschränkungen für den unabhängigen Journalismus einführte, darunter Geldstrafen für „einseitige Berichterstattung“, empörten sich mehrere EU-Regierungen, internationale Organisationen und auf Medienfreiheit spezialisierte NGOs. 

„Dies ist eine direkte Gefahr für die Demokratie“, sagte Jean Asselborn, der damalige Außenminister Luxemburgs. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán habe sich mit der Einführung eines derart restriktiven Gesetzes die Vorgehensweise von Autokraten wie des „letzten Diktators in Europa“, Alexander Lukaschenko in Belarus, und Russlands Präsident Wladimir Putin zu eigen gemacht.

Doch trotz des Aufschreis blieb das Gesetz in Kraft, und die regierende Fidesz-Partei unter Orbán hat seitdem freie Hand, gegen unabhängige und kritische Medien vorzugehen. In der Folge kontrollieren die ungarische Regierung und ihre privatwirtschaftlichen Verbündeten nun große Teile der Medienindustrie des Landes.

Dies ist eine direkte Gefahr für die Demokratie.

 Jean Asselborn, ehemaliger Außenminister Luxemburgs über Ungarns restriktives Mediengesetz

Inzwischen gibt es Probleme von Bulgarien bis Frankreich

Ein Jahrzehnt später sieht sich die EU-Kommission mit einer Ausbreitung dieser Entwicklung in anderen europäischen Ländern konfrontiert. In Tschechien, einst ein pulsierender Medienmarkt, hat der ehemalige Ministerpräsident Andrej Babis seit 2014 sein Geschäftsimperium durch den Kauf des Verlagshauses Mafra auf die Medien ausgeweitet.

In Bulgarien hat Delyan Peevski, ein Parlamentsabgeordneter und Oligarch, beträchtliche Macht in den Medien angehäuft, was ihm geholfen hat, seinen Einfluss auf staatliche Institutionen auszuweiten.

Aber nicht nur die Medien in den osteuropäischen Ländern sind von oligarchischer Vereinnahmung bedroht. Daniel Kretinsky, ein tschechischer Geschäftsmann, der einen der größten Energiekonzerne Europas aufgebaut und in eine Reihe von Branchen in ganz Europa investiert hat, hat in Frankreich Anteile an einer wachsenden Zahl von Medien erworben, darunter die Tageszeitung Le Monde, den Fernsehsender TF1 und ein Verlagshaus.

Im vergangenen September stellte die Exekutive der EU ein neues Regelwerk vor, bekannt unter dem Namen European Media Freedom Act (Europäischer Rechtsakt zur Medienfreiheit) bzw. EMFA, das auf diese Problematik reagieren soll.

„Zwischen Atombombe und Kosmetik“

Als die Verordnung im September vorigen Jahres öffentlich wurde, sagte EU-Kommissarin Věra Jourová, der Gesetzesvorschlag liege ungefähr in der Mitte zwischen einer „Atombombe“ und „Kosmetik“. 

Der EMFA ist wohl die bislang fortschrittlichste medienspezifische Gesetzesinitiative auf dem europäischen Kontinent. Da es sich um eine Binnenmarktregelung handelt, haben nationale Instanzen nicht die Möglichkeit, sie nach eigenen Vorlieben zu frisieren oder zurechtzubiegen, wie dies normalerweise bei Richtlinien der Fall ist.

Es ist eine Art Rechtsvorschrift, die die einzelnen EU-Mitglieder nach eigenem Ermessen in ihr Rechtssystem einbinden müssen. Das ist durchaus zu begrüßen. Dass der EMFA seine Zielsetzungen erreichen wird, ist allerdings unwahrscheinlich, insbesondere in Ländern mit einer durchwachsenen Erfolgsbilanz in Sachen Pressefreiheit. Es wurde nämlich versäumt, die korrupte Vergabe von öffentlichen Geldern anzugehen.

Zwar wird die Verordnung Medienunternehmen zwingen, Angaben zu ihren Eignerschaften zu veröffentlichen und die Entscheidungsprozesse der Regierungen bei der Vergabe von Finanzmitteln an Medienunternehmen offenzulegen.

Nicht zu erwarten ist jedoch, dass die Verordnung, wenn überhaupt, nennenswerte Auswirkungen auf bereits bestehende Medienkontrolle hat, da sie sich nicht mit dem eigentlichen Kern der Einflussnahme befasst: dem System finanzieller Korruption, mit dem Regierungen Medienunternehmen dahingehend beeinflussen, dass sie den Interessen der amtierenden Politiker:innen und ihrer Verbündeten entgegenkommen.

Orbán konnte zehn Jahre schalten, ohne dass Brüssel etwas tat

Ohne verbindliche Bestimmungen zu den Finanzmitteln wird der EMFA in Ländern, in denen die staatliche Vereinnahmung bereits weit fortgeschritten ist und in denen Regierungsmeldungen in einem nahezu unwidersprochenen Raum verbreitet werden, relativ wirkungslos bleiben.

Wie wir im Fall von Ungarn dieses Stadium erreicht haben, erstaunt bis heute. Viktor Orbán konnte seit 2010 eine gewaltige Menge privatwirtschaftlicher Medien übernehmen, ohne dass jene in Brüssel, die die europäischen Werte zu schützen vorgeben, etwas dagegen unternommen hätten.

Viele Freunde Orbáns, etwa Lőrinc Mészáros, sind nun Eigentümer einer ganzen Reihe von Medien in ganz Ungarn – Zeitungen, Fernsehsender und Hörfunkkanäle. Die Central European Press and Media Foundation, die einige der politisch einflussreichsten Medien in Ungarn vereint, leitet ein früherer Fidesz-Minister und Verbündeter von Ministerpräsident Orbán.

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Es ist kein Zufall, dass heute eine große Zahl dieser Unternehmen zu den Hauptbegünstigten gehört, die öffentliches Geld für Regierungsaufträge in anderen Branchen bekomen, beispielsweise im Baugewerbe, und die mit staatlichen Fördergeldern aus der Hand von Regierungsinstanzen überschüttet werden.

Intransparente Eigentumsverhältnisse im Medienbereich, politisierte Aufsichtsorgane, von der Regierung kontrollierte öffentliche Medien und ungerechte Verteilung von Staatsgeld sind allesamt gravierende Probleme und eine Belastung für die Medienlandschaft.

Das eigentliche Problem ist jedoch die unverhältnismäßig hohe Konzentration von Vermögenswerten im Medienbereich, die durch Absprachen zwischen Regierungen und Unternehmen entsteht – ein Problem, mit dem unabhängige Medien in ganz Europa seit mehr als einem Jahrzehnt zu kämpfen haben.

Sämtliche Verbindungen zwischen Medien und Regierung kappen

Um dieses Problem anzugehen, muss die dreifache Nabelschnur, die die Regierung, ihre wirtschaftlichen Verbündeten und den Mediensektor miteinander verquickt, gekappt und durch ein System ersetzt werden, das Unternehmen beim Zugang zu öffentlichen Geldern Grenzen setzt und neue Eigentumsregeln für Medienorganisationen vorschreibt.

Eine Reihe regierungsunabhängiger Organisationen, darunter das Internationale Presseinstitut (IPI), fordern die EU-Kommission auf, die Gesetzesvorlage für den EMFA um einen zusätzlichen Paragraphen zu erweitern, um „den Zugang zu öffentlichen Auftragsvergaben in anderen Branchen als der Medienbranche für Unternehmen, deren Beteiligung an Medien einen bestimmten Schwellenwert übersteigt“, zu verschließen.

Das IPI betont, dass das korrupte finanzwirtschaftliche System im Medienbereich das Nachrichtengeschehen verzerrt, indem es „für Medienbesitzer einen Anreiz schafft, ihre Berichterstattung den Interessen der Regierung anzupassen“.

Die Verabschiedung solcher Bestimmungen wäre ein ebenso mutiger wie begrüßenswerter Schritt der Kommission, mit dem verhindert werden könnte, dass mächtige Gruppierungen Kontrolle über andere Mediensysteme in der EU erlangen.

Die Kommission würde damit auch signalisieren, dass sie bereit ist, zur Rettung einer freien Medienlandschaft in Europa, welche zentral für das Funktionieren einer Demokratie ist, einzugreifen, anstatt schwierige Themen auf die lange Bank zu schieben.

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