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Anwälte protestieren in Tunis gegen die Politisierung der Justiz.

© AFP/FETHI BELAID

Repression in Tunesien: „Wir leben in einem großen Freiluftgefängnis“

Spitzenpolitiker und Journalisten werden verhaftet, Richter entlassen: Präsident Kais geht gnadenlos vor. Dabei hatte Tunesien 2019 noch die freieste Presse Nordafrikas.

Die Presse muss in Tunesien immer häufiger draußen bleiben: Nachdem bei der ersten Sitzung des neugewähltenen Parlaments im März nur das Staatsfernsehen berichten durfte, standen Medienschaffende auch am Donnerstag vor dem Gericht von Tunis vor verschlossenen Türen.

Sicherheitsbeamte versperrten ihnen den Weg. „Das ist eine Premiere seit der Revolution“, bedauert Aicha Ben Belhassen, zweite Vorsitzende des tunesischen Richterverbandes.

Der hatte zum Protest geladen, nachdem vor genau einem Jahr 57 Richterinnen und Richter vom zunehmend autoritär regierenden Präsidenten Kais Saied kurzerhand eigenmächtig entlassen worden waren. Zwar entschied das Verwaltungsgericht schnell, dass gegen die große Mehrheit der Betroffenen nichts vorliege, doch bis heute warten sie darauf, ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können.

Wir sind heute alle Teil der Opposition – gegen die Unterdrückung in Tunesien.

Ayachi Hammami, Anwalt und Sprecher der informellen Koalition für die Unabhängigkeit der Justiz

Ihre Posten hat das Justizministerium neu besetzt, während die Geschassten weder Arbeit noch Gehalt oder eine Krankenversicherung haben, so Ben Belhassen. „Wir sind heute alle Teil der Opposition – gegen die Unterdrückung in Tunesien“, so Ayachi Hammami, Anwalt und Sprecher der informellen Koalition für die Unabhängigkeit der Justiz.

Politiker, Justiz, Mitglieder der Zivilgesellschaft, Medienschaffende oder Migranten: In den letzten Monaten hat sich ihre Situation so verschärft, dass man sich gegenseitig unterstützen müsse, sagt Hammami.

Journalisten demonstrieren vor dem Sitz der Journalistengewerkschaft für freie Berufsausübung.

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Hasan Mrad

„Wir Anwälte brauchen unabhängige Berichterstattung und die Journalisten im Zweifelsfall einen Anwalt, der sie verteidigt.“ Denn nach und nach werde versucht, jede Stimme, die nicht auf Regierungslinie sei, zum Sündenbock für die Probleme des Landes zu machen.

Wöchentlich neue Festnahmen

Tunesiens Präsident Kais Saied hat vor knapp zwei Jahren den Notstand ausgerufen und schrittweise immer mehr Macht auf sich vereint. Seit dem Sommer 2021 hat er nicht nur etliche staatliche Institutionen aufgelöst. Seit Anfang des Jahres wurden auch eine Reihe Politiker wegen mutmaßlicher Umsturzpläne inhaftiert, quasi wöchentlich kommt es seitdem zu neuen Festnahmen.

Das prominenteste Opfer der Verhaftungswelle bisher ist Rached Ghannouchi, Mitgründer und Vorsitzender der islamisch-konservativen Ennahdha-Partei, deren gesamte Führungsriege inzwischen in Haft ist. Mehrere Dutzend Politiker anderer politischer Strömungen sind ebenfalls inhaftiert. Obwohl die Vorwürfe haltlos und die Ermittlungsakten quasi leer seien, sitzen die Beschuldigten bis heute in Untersuchungshaft, kritisieren ihre Anwälte.

250
Angriffe auf Medienschaffende wurden im letzten Jahr registriert

Auch gegen Journalisten mehreren sich die Verfahren. Zwanzig Medienschaffende stünden derzeit vor Gericht, so der tunesische Journalistenverband. Sie würden nach Strafrecht, Anti-Terrorgesetz oder einem neuen Gesetz gegen Cyberkriminalität angeklagt, „aber kein einziger nach geltendem Presserecht, das eigentlich verwendet werden müsste“, kritisiert Amira Mohamed vom Journalistenverband.

Mehr als 250 Übergriffe auf Berichterstattende hat die Gewerkschaft in den letzten zwölf Monaten verzeichnet. In der Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation Reporter ohne Grenzen jedes Jahr veröffentlicht, rangierte Tunesien 2019, als Präsident Kais Saied gewählt wurde, noch auf Platz 72 – das beste Ranking in Nordafrika und dem Nahen Osten. Heute ist es auf Rang 121 von 180 abgerutscht.

Größter privater Radiosender im Visier

Zuletzt wurde Khalifa Guesmi, Regionalkorrespondent von Mosaique FM, dem größten privaten Radiosender des Landes, zu fünf Jahren Haft verurteilt, da er eine Quelle im Sicherheitsapparat nicht preisgeben wollte.

„Unabhängige Informationen, Kritik und Quellenschutz werden heute kriminalisiert“, sagt Amira Mohamed, die die Presse- und Meinungsfreiheit in Tunesien generell bedroht sieht. Sie und ihre Kollegen hätten heute Angst, wenn sie ihre Arbeit ausüben.

Unabhängige Informationen, Kritik und Quellenschutz werden heute kriminalisiert.

Amira Mohamed vom tunesischen Journalistenverband

Mosaique FM, einer der weniger Sender, der regelmäßig unterschiedliche politische Meinungen in seinem Programm abbildet, steht derzeit besonders im Fokus der Justiz.

Ein Kolumnist und der Moderator des populären politischen Mittagsprogramms des Senders wurden angezeigt, weil der Kolumnist nach dem Anschlag auf die La Ghriba-Synagoge auf Djerba die Einstellungspraxis der Sicherheitskräfte in Frage stellte. Dort hatte Anfang Mai ein Mitglied der Nationalgarde drei Kollegen und zwei jüdische Pilger getötet.

Noureddine Boutar, der Leiter des Radiosenders, saß von Februar bis Ende Mai in Untersuchungshaft. Auch im wurde im gleichen Verfahren wie den Oppositionspolitikern vorgeworfen, an Umsturzplänen beteiligt gewesen zu sein. Als erster Beschuldigter wurde er nun zwar gegen Zahlung einer Kaution von einer Million Dinar (rund 300 000 Euro) freigelassen, doch die Ermittlungen dauern an.

Der Druck gegen seinen Sender bleibt also bestehen. Die gesamte tunesische Bevölkerung sei heute nur noch „vorläufig auf freiem Fuß“, so Mehdi Jelassi, Vorsitzender der Journalistengewerkschaft. Tunesien hat sich „in ein großes Freiluftgefängnis verwandelt“.

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