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Russische Schiffe auf dem Schwarzen Meer.

© AFP/Vasily Batanov

Russlands Provokationen am Schwarzen Meer: „Der Westen hätte konsequenter reagieren müssen“

Warum die Krim und besetzte Gebiete im Süden der Ukraine für Russlands Rolle in der Welt zentral sind: Ein Interview mit dem Regionalexperten Wilfried Jilge.

Von Hans Monath

| Update:

Die Attacke eines russischen Kampfflugzeugs auf eine US-amerikanische Drohne hat kürzlich den Blick auf die Lage im Schwarzen Meer gelenkt. Ist dieser Zwischenfall einmalig – oder haben solche Vorfälle System?
Russland hat schon vor dem Überfall auf die Ukraine in dieser Region regelmäßig militärische Störmanöver unternommen, um der Nato zu signalisieren, dass das Schwarze Meer russisch sei. Das ist natürlich Unfug, zumal sich der Fall mit der Drohne im internationalen Luftraum abspielte.

Es gehört aber zur hybriden Taktik Russlands, hier eine Verschärfung in Kauf zu nehmen, um eigene Ansprüche durchzusetzen. Mit relativ kleinen Grenzüberschreitungen provoziert man im Westen Diskussionen darüber, ob eine Antwort mit ähnlichen Mitteln eine militärische Eskalation heraufbeschwören könnte. So verschieben sich die Grenzen.

Hat die russische Seite Interesse an einer tatsächlichen Eskalation mit der Nato?
Das glaube ich nicht. Russland wollte die Drohne möglicherweise vom Kurs abbringen, hatte aber sicher kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit der Nato beziehungsweise mit den USA, auch weil es vollständig mit der bisher kaum erfolgreichen Offensive im Donbass beschäftigt ist. An zusätzlichen Problemen im Schwarzen Meer, wo die Schiffe der Schwarzmeerflotte kreisen, von denen aus ukrainische Städte beschossen werden, kann es ebenfalls kaum Interesse haben. Gleichwohl sind diese Aktionen außerordentlich riskant. Sie erinnern uns zudem an das breite Arsenal von hybriden Attacken, mit denen Russland gegen den Geist des Völkerrechts und gegen „best practices“ auf See bereits vor dem Februar 2022 vor allem die Sicherheit der Ukraine, aber auch der Region bedrohte.

Welche meinen Sie?
Ein Verhaltensmuster ist beispielsweise das gezielte Stören der globalen Navigationssysteme, die die Sicherheit der zivilen Schifffahrt empfindlich gefährden. Ein anderes, noch gravierenderes Muster sind die präzedenzlosen völkerrechtswidrigen und weiträumigen Seegebietssperrungen, die vor allem der Einengung der Bewegungsspielräume der Ukraine vor ihren Küsten sowie auf ihren Handelsrouten und damit ihrer Destabilisierung dienten.

Insgesamt zielten diese häufig mit militärischen Drohungen unterlegten hybriden Störmanöver auf eine „schleichende Annexion“ des Meeres und damit eine russische Dominanz in der Großregion.

Welche Präsenz an Kriegsschiffen haben die USA und andere Nato-Staaten im Schwarzen Meer?
Von den Nato-Staaten haben nur die Türkei, Rumänien und Bulgarien eine Küste zum Schwarzen Meer. Laut dem Meerengen-Abkommen von Montreux aus dem Jahre 1936 dürfen sich Kriegsschiffe von Nicht-Anrainerstaaten nicht länger als 21 Tage auf dem Schwarzen Meer bewegen und dabei eine bestimmte Tonnage nicht überschreiten.

Die Nato hat auf die Annexion der Krim zwar mit einer Erhöhung der Präsenz von Nato-Schiffen reagiert, die auch einen Beitrag zur Sicherheit der vom russischen Dominanzstreben bedrängten ukrainischen Handelsschiffe leistete; doch waren diese Maßnahmen, die vor allem von einzelnen Nato-Staaten wie den USA getragen wurden, aufgrund der von Russland bereits geschaffenen Fakten und wegen der Restriktionen im Vertrag von Montreux nicht ausreichend, um der Ukraine nachhaltigeren Schutz zu gewähren.

Auch nach 2014 wurden die Folgen der fortgesetzten Aushöhlung des internationalen Rechts für die Sicherheit in der Region unterschätzt oder verdrängt.

Wilfried Jilge, Osteuropahistoriker

Warum haben andere Nato-Länder der bedrängten Ukraine nicht geholfen?
Der Westen hätte konsequenter auf die russische Aggression in Georgien 2008 und erst recht auf die russische Annexion der Krim, die das Gleichgewicht in der Region zerstört hat, reagieren müssen. Und auch nach 2014 wurden die Folgen der fortgesetzten Aushöhlung des internationalen Rechts für die Sicherheit in der Region unterschätzt oder verdrängt.

Eine wichtige Rolle spielte und spielt auch heute noch die insbesondere seit 2015 veränderte Rolle der Türkei: Traditionell sorgte sie – nicht zuletzt auf der Grundlage des Vertrages von Montreux – stets für ein subtiles Gleichgewicht zwischen der Nato und Moskau. Doch hatte Ankara nach 2014 keine eindeutigen Konsequenzen aus der Aggression Russlands gezogen; zudem hat es zwischenzeitlich seine Aufmerksamkeit auf andere Regionen wie Nordsyrien konzentriert und damit seine Rolle als Hüter des Gleichgewichts im Schwarzen Meer vernachlässigt.

Ein Massengutfrachter vor dem Hafen von Odessa.

© dpa / dpa/Ukrinform/Uncredited

Wie hätte Hilfe für die Ukraine im Schwarzen Meer aussehen können?
Vorschläge für eine Stärkung der Verteidigung der Ukraine im Süden oder ihre Unterstützung im Schwarzen Meer hat es gegeben: Beispielsweise hätten EU-Staaten, die über eine geeignete Marine verfügen, ebenfalls eigene Marineschiffe zur Sicherung des Rechts auf freie Seefahrt in internationalen Gewässern ins Schwarze Meer auf Rotationsbasis entsenden können. Sie hätten so auch bei Beachtung des Montreux-Vertrages die Präsenz der westlichen Partner der Ukraine auf eine breitere Basis stellen können. Die Erfahrung vor 2022 zeigte, dass Russland eine direkte Konfrontation mit dem Westen zu vermeiden suchte, wenn dieser Präsenz gezeigt hat.

Nur aus Gründen der Solidarität mit der Ukraine?
Nein, es ist im Sicherheitsinteresse der EU, die Grundregeln des Internationalen Seerechts auch auf dem Schwarzen Meer zu verteidigen. Schon vor dem Februar 2022 gefährdete Russland dort die internationale Schifffahrt, etwa durch nicht angemeldete, kurzfristige Marinemanöver und damit einhergehende Sperrungen von Seegebieten, die in der Ausschließlichen Wirtschaftszone der Ukraine (AWZ) lagen. Auch dabei ging es unter anderem um das Signal, die Gewässer um die Krim gehörten zu Russland.

Von welchen Signalen reden Sie?
Ich meine die noch gravierenderen hybriden Operationen, die unter dem Vorwand des Schutzes der angeblich eigenen, tatsächlich aber geraubten ukrainischen Energieinfrastruktur mit der Androhung militärischer Gewalt einhergingen. Sie haben nicht nur die friedliche Durchfahrt auf anerkannten Seerouten gefährdet, sondern auch die Ukraine schon vor 2022 in eine militärisch immer aussichtslosere Lage schlittern lassen.

Denken Sie nur an die international damals kaum beachtete Besetzung sämtlicher ukrainischer Gasplattformen durch Russland im Gefolge der Krim-Annexion 2014 zwischen der Küste der Krim und der Küste Odessas in der AWZ. Hier kann durchaus von einer De-facto-Ausweitung der Okkupation gesprochen werden. Russland hat nicht nur die Plattformen und das dort geförderte Gas geraubt; es hat die Plattformen auch mit militärischen Aufklärungssystemen bestücken, notfalls von Kriegsschiffen bewachen lassen und somit einen Teil des nordwestlichen Schwarzen Meeres für ukrainische Schiffe kaum mehr befahrbar gemacht.

Der Korridor in diesem Teil des Schwarzen Meeres zum Bosporus wurde massiv eingeschränkt, in dem der Abstand zwischen der äußeren russisch besetzten Gasplattform und der Schlangeninsel nur noch circa 25 Kilometer betrug. So bahnte sich im nordwestlichen Teil des Schwarzen Meeres eine ähnliche Situation wie im Asowschen Meer an. All dies diente dem Kreml schon vor Kriegsbeginn zur Einschüchterung und Destabilisierung der Ukraine, deren wichtigste Handelshäfen ja eben in diesem Gewässerabschnitt liegen.

Feuer auf der Krimbrücke nach der Explosion eines Lastwagens am 8. Oktober 2022: Steckte der ukrainische Geheimdienst dahinter?

© Imago/Vladimir Mordunov

Welche Bedeutung hat die 2018 fertiggestellte Brücke zwischen der Krim und Russland?
Der Bau der völkerrechtswidrigen Krimbrücke diente nicht nur der Versorgung der Halbinsel, solange die Ukraine noch das nördlich angrenzende Festland kontrollierte; vielmehr nutzte Russland die Brücke für eine Teilblockade ukrainischer und ausländischer Schiffe an der ins Asowsche Meer führenden Straße von Kertsch. Die Folge waren hohe Kosten für die Schiffseigner und empfindliche Einbußen von Millionen Tonnen an Fracht für die Ukraine in ihren Häfen am Asowschen Meer.

Mit seiner militärischen Attacke gegen ukrainische Schiffe am Asowschen Meer im November 2018 hat Russland dann klargemacht, dass es die volle Kontrolle über das Asowsche Meer auch mit militärischer Gewalt durchsetzen will. Ich halte den Hinweis auf solche bereits vor der Invasion 2022 vom Kreml praktizierten kolonialen Verhaltensmuster Russland übrigens für einen wichtigen Punkt beim Versuch, Länder des globalen Südens zur Verurteilung des russischen Imperialismus zu bewegen. Man sollte ihnen auch deutlich machen, dass Russland schon vor dem Februar 2022 den Export von ukrainischem Getreide zu blockieren versuchte, auf das viele Länder im Süden angewiesen sind.

Über den Angriffskrieg gegen die Ukraine hinaus bildete die Annexion der Krim für den Kreml einen entscheidenden militärstrategischen Schritt, seine Dominanz in der erweiterten Schwarzmeerregion auszubauen und seine imperialen Ziele zu erreichen.

Wilfried Jilge, Osteuropahistoriker

Jenseits der historischen Argumentation Putins, der die Krim zu russischem Kernland erklärt: Welche strategische Bedeutung hat die Halbinsel für Russland?
Die Krim bildet den entscheidenden Logistik-Standort für ihre militärischen Aktionen auf dem Territorium der Ukraine. Die Militärgüter werden über die erwähnte Brücke und über die Halbinsel hindurch in die Südukraine transportiert.

Aber über den Angriffskrieg gegen die Ukraine hinaus bildete die Annexion der Krim für den Kreml einen entscheidenden militärstrategischen Schritt, seine Dominanz in der erweiterten Schwarzmeerregion auszubauen und seine imperialen Ziele zu erreichen: So dient die seit 2014 von Russland massiv militarisierte Krim auch als Machtprojektion des Kremls bis ins östliche Mittelmeer und den Balkan und damit gegen die Nato und die EU. Die Krim ist der wichtigste Stützpunkt für alle Unternehmungen im östlichen Mittelmeer. Die dort stationierte russische Schwarzmeerflotte war die logistische Lebensader für das russische Militär im Syrien-Krieg.

Die Rückeroberung der Krim ist Ziel der Ukraine. Wenn die Halbinsel so wichtig ist für Russland, wie Sie argumentieren, würde dann eine Rückeroberung von Russland mit noch weiterer Eskalation beantwortet werden?
Zunächst einmal sehe ich grundsätzlich keinen Grund, vom Ziel der Wiederherstellung der vollen territorialen Integrität der Ukraine und damit des völkerrechtlichen Normalzustandes abzugehen. Es ist nicht im europäischen Sicherheitsinteresse, wenn die Krim in russischer Hand bleibt, denn dann werden wir weiter einen Eskalationsherd im Schwarzen Meer haben.

Solange Russland über die Krim herrscht, wird es versuchen, eine Dominanz aufzubauen, die das Völkerrecht und die Sicherheit in der Region untergräbt. Zudem ist die Krim bereits seit 2014 Schauplatz von Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Die Krimtataren beispielsweise, deren Heimat die Halbinsel ist, werden massiven Repressionen ausgesetzt. Dies trug ebenfalls zur Aushöhlung internationalen Rechts und der regelbasierten Ordnung bei.

Die Ukraine wiederum ist nur überlebensfähig, wenn sie möglichst viel von ihrer Küste und möglichst viel von ihren Häfen sichert. Deshalb muss es das Ziel bleiben, dass die Ukraine die Kontrolle über ihre ans Asowsche Meer angrenzenden Gebiete wiedererlangt.

Was hieße ein solcher Erfolg für die Krim?
Schon wenn die ukrainische Armee die Städte Melitopol und Berdjansk im Süden befreit, wäre die russische Logistik unterbrochen. Das würde eine Dynamik ins Kriegsgeschehen bringen und die ukrainische Verhandlungsposition gegenüber Russland bereits ungemein stärken.

Und die russische Reaktion?
Wie eine russische Reaktion ausfällt, hängt von den Erfolgen der zu erwartenden militärischen Offensive der Ukraine im Süden und damit von der Frage ab, wie stark dann einerseits die ukrainische Position in der Nähe der Krim ist und wie stark geschwächt andererseits Russland sein wird.

Eine Befreiung der Krim ist zudem auch mit anderen als allein militärischen Mitteln denkbar. Der stellvertretende Leiter des Präsidialbüros der Ukraine, Andrij Sybiha, äußerte ja vor wenigen Tagen die Möglichkeit, dass sich auch eine „diplomatische Seite“ öffnen könne, wenn die Ukraine ihre strategischen Ziele erreichen und an die Verwaltungsgrenzen der Krim gelangen würde. Aber an diesem Punkt sind wir noch lange nicht. Und schließlich müssen wir auch die innenpolitischen Dynamiken in Russland bedenken.

Wir wollen, dass der Krieg zu Ende geht. Aber er wird nur zu Ende gehen, wenn die Ukraine im Süden ihres Landes in eine deutlich bessere Position kommt.

Wilfried Jilge, Osteuropahistoriker

Welche Dynamik meinen Sie?
Empfindliche russische Niederlagen im Süden könnten Putins Autorität massiv beschädigen. Zwar ist die Krim zweifelsohne ein besonders bedeutender Erinnerungsort im nationalen bzw. imperialen Bewusstsein der Russen. Doch hat der „Hype“ um die Krim in Russland seit 2019/20 nachgelassen und konnte schon die aufkommende Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung mit der inneren sozioökonomischen Entwicklung nicht mehr kompensieren.. Außerdem wird sich die wirtschaftliche Lage in Russland im Lauf des Jahres wahrscheinlich weiter verschlechtern. Und auch in Zentralrussland, nicht mehr nur in den Gebieten ethnischer Minderheiten, erleben die Menschen nun die Folgen der Mobilisierung junger Männer.

Einige Stimmen der „Expert Community“ schließen daher nicht aus, dass die Eliten außerhalb Putins und seines unmittelbaren Machtkerns zu dem Schluss gelangen könnten, dass Regimesicherung ohne die Krim wichtiger sein könnte als ein Krieg mit ungewissem Ausgang.

Der Bundeswehr fehlt zum Beispiel Munition, mit der sie die Ukraine unterstützen könnte. Was also sollte Deutschland tun?
Die USA, die Bundesregierung und die anderen westlichen Partner der Ukraine haben gerade in letzter Zeit erhebliche Anstrengungen unternommen, die Ukraine zu unterstützen. Nun gilt es, alles zu tun, um so schnell wie möglich die eigenen Lücken zu schließen und gleichzeitig die Ukraine weiter mit benötigtem Gerät und Munition zu versorgen. Wir wollen, dass der Krieg zu Ende geht. Aber er wird nur zu Ende gehen, wenn die Ukraine im Süden ihres Landes in eine deutlich bessere Position kommt. Wenn wir das wollen, müssen wir sie nachhaltig unterstützen.

Selbst wenn die Ukraine in absehbarer Zeit militärische Erfolge vorweisen könnte, müssten wir sie trotzdem unterstützen. Auch im Falle eines Waffenstillstands braucht sie militärische Ausrüstung und Garantien. Denn gerade die Geschehnisse am Schwarzen Meer zeigen: Auch die Sicherheit Deutschlands und Europas wird durch die Ukraine verteidigt.

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