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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.

© dpa/Michael Kappeler

Ukraine Invasion Tag 616: „Wir gewinnen den Krieg nicht“ – der Pessimismus in Selenskyjs Umfeld

Größter russischer Raketenangriff seit Jahresbeginn, Millionen Ukrainer brauchen humanitäre Hilfe. Der Nachrichtenüberblick am Abend.

Simon Shuster ist einer der bekanntesten Journalisten der USA. Und er ist wohl einer derjenigen mit dem besten Zugang zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Schon zu Beginn des Krieges schrieb Shuster für das „Time Magazine“, für das er arbeitet, einen großen Artikel (hier).

Damals enthüllte Shuster, dass Russland seinem Ziel, Selenskyj zu töten, in den ersten Kriegstagen sehr viel näher gekommen war, als bis dahin öffentlich bekannt. Der Artikel war geprägt von dem heroischen Verteidigungskampf, den die Ukraine führte und den fast niemand dem Land vor der Invasion zugetraut hatte. 

Shuster verbrachte im Frühjahr 2022 zwei Wochen zusammen mit Selenskyj und seinem Team im Präsidentenpalast in Kiew, im „Bunker“, wie er damals schrieb. Das hat er jetzt wieder getan und seine Eindrücke und das Ergebnis vieler Gespräche mit Bekannten und Mitarbeitern Selenskyjs in einem Artikel verarbeitet (hier). Die Zeile, die der Titel des „Time Magazin“ in dieser Woche trägt, ist ein Zitat Selenskyjs aus den Gesprächen: „Niemand glaubt so sehr an den Sieg der Ukraine wie ich. Niemand.“

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Womit wir auch schon beim Thema sind. Beschäftigte sich Shusters erster großer Artikel vor allem mit dem erstaunlichen Fakt, dass die Ukraine die ersten Wochen des russischen Angriffs als Staat überlebte – und Selenskyj seinerseits am Leben blieb – geht es jetzt um Frage, wie wahrscheinlich ein ukrainischer Sieg noch ist.

Selenskyjs größte Sorge, so wird in dem Text klar, ist die Gewöhnung der Welt an den Krieg in der Ukraine. Das führe auch dazu, sagt der Präsident, dass es zunehmend schwierig werde, militärische Hilfe zu organisieren. Die aktuellen Mittel und Hilfen reichten, um zu überleben, nicht um zu gewinnen. Blieben die Hilfen ganz aus, wäre eine Niederlage der Ukraine ausgemachte Sache. 

Und das hat Folgen, für Selenskyj und für sein Team. „Wütend“ sei der Präsident, erzählt einer seiner Getreuen ob der nachlassenden Unterstützung. Der Präsident im zweiten Kriegsjahr sei ein anderer Mensch. Verschwunden seien sein Humor, seine Zuversicht. Was Selenskyj nicht verstehen würde, sagt einer aus seinem Team: „Wir haben keine Optionen mehr. Wir gewinnen nicht. Aber das will er nicht hören.“ Gespräche über einen möglichen Verhandlungsfrieden mit Moskau seien tabu.

„Wir gewinnen nicht.“ Nach all den Toten ist es ein Satz wie ein Schwertschlag. Und doch ordnet er die aktuelle Kriegssituation wohl realistisch ein. Die ukrainische Gegenoffensive stockt, Russland dagegen rüstet sich für eine erneute Großoffensive. Wie Shuster schreibt, hätten sich manche Generäle an der Front auch verweigert anzugreifen, selbst wenn der Befehl direkt von Selenskyj selbst kam. Der Grund: Es fehlte ihnen an Waffen und Soldaten. 

Es ist ein düsteres, pessimistisches, teilweise bitteres Bild, das Shuster vom Präsidenten und seinem Umfeld zeichnet. Es ist geprägt von Kriegsmüdigkeit, vielleicht auch von Hoffnungslosigkeit. Und das vor einem Winter, in dem die russischen Raketenangriffe auf Kraftwerke noch heftiger werden könnten als im vergangenen Jahr. Zerstreuen könnten das Bild militärische Erfolge, Zeichen, dass die Ukraine doch die Oberhand gegen die russischen Invasoren behalten kann. Es wäre auch ein Zeichen an die Unterstützer: Es lohnt sich. Einzig, das Zeichen fehlt bisher. 

Die wichtigsten Nachrichten des Tages:

  • Stärkste Angriffe seit Jahresbeginn: Bei den russischen Angriffen in zehn verschiedenen Regionen der Ukraine wurden Behördenangaben zufolge mindestens vier Menschen getötet. 14 weitere wurden verletzt. Mehr hier.
  • „Putin wird ohne unsere Unterstützung erfolgreich sein“: US-Verteidigungsminister Austin und US-Außenminister Blinken warnen davor, die Unterstützung der Ukraine wegen Hilfen für Israel zu beschränken. Die beiden Kriege seien miteinander verflochten. Mehr hier.
  • Russland setzt nach britischer Einschätzung im Angriffskrieg gegen die Ukraine zunehmend auf Drohnen des Typs Lancet. Die Drohne sei höchstwahrscheinlich eins der effektivsten neuen Kampfmittel, die Russland in den vergangenen zwölf Monaten in der Ukraine eingesetzt habe, teilte das Ministerium in London am Mittwoch in seinem täglichen Update beim Kurznachrichtendienst X mit. Mehr in unserem Newsblog.
  • Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat noch vor der Ankunft der ersten westlichen Kampfjets vom Typ F-16 in der Ukraine von deren Abschuss innerhalb von drei Wochen gesprochen. Im vergangenen Monat habe die russische Flugabwehr „mehr als 1400 Luftangriffsobjekte des Gegners, darunter 37 Flugzeuge und 6 taktische Raketen ATACMS abgeschossen“, behauptete Schoigu am Dienstag bei einer Ministeriumssitzung. 
  • Der Bedarf an humanitärer Hilfe in der Ukraine ist nach Angaben des UN-Nothilfebüros OCHA mehr als anderthalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs enorm. Derzeit benötigten rund 18 Millionen Menschen irgendeine Form humanitärer Hilfe, sagte OCHA-Direktor Ramesh Rajasingham am Dienstag (Ortszeit) vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York. 
  • Russland hat nach ukrainischen Angaben die Ölraffinerie in Krementschuk in der zentralen Region Poltawa angegriffen. Die Raffinerie sei in Brand geraten, schreibt der Leiter der Militärverwaltung der Region, Filip Pronin, auf Telegram. Inzwischen sei das Feuer gelöscht. „Die Situation ist unter Kontrolle.“ 
  • Die russische Luftabwehr hat nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau erneut zwei ukrainische Drohnen über dem westrussischen Grenzgebiet Kursk abgefangen. Am späten Dienstagabend sei ein Versuch Kiews vereitelt worden, „einen Terroranschlag auf Einrichtungen im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation zu verüben“, teilte das Ministerium in der Nacht zum Mittwoch bei Telegram mit.

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