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Ukrainische Soldaten bei einer Militärübung.

© dpa/Efrem Lukatsky

Ukraine-Invasion Tag 666: Fitnessstudio statt Fronteinsatz – Streit um weitere Mobilisierung in Kiew 

Hanta-Virus grassiert unter russischen Soldaten, Moskau kritisiert Nato-Erweiterung, Nawalnys Team lobt Belohnung für Hinweise über dessen Verbleib aus. Das Nachrichten-Update am Abend.

zum Ende des Jahres spitzt sich in der Ukraine das vielleicht sensibelste innenpolitische Thema weiter zu: die Dienstpflicht im Militär. Rund eine halbe Million neue Soldaten verlangt die Armeeführung von Regierungschef Wolodymyr Selenskyj. Die Regierung reagierte bisher alles andere als begeistert auf die Forderung. 

Politiker aus Selenskyjs Umkreis kritisierten die Armeeführung um den obersten General Walerji Saluschnyj, dass ihnen militärstrategisch nichts Besseres einfalle, als mehr Soldaten zu fordern. Selenskyj wiederum brachte ein nüchternes Argument am Dienstag bei seiner großen Pressekonferenz in die Debatte ein: die Kosten einer solchen Mobilmachung beziehungsweise der Vergrößerung der Armee. „Ein Soldat gleicht sechs Zivilisten, die Steuern zahlen. Das bedeutet: plus drei Millionen Steuerzahler ab Januar. Wo soll ich die finden?“, fragte er. Die Gesamtkosten bezifferte er auf zwölf Milliarden Euro (Quelle hier). Ausgaben, die die Ukraine, auch wegen ausbleibender finanzieller Hilfe aus dem Westen, nur schwer stemmen kann. Aktuell zählen rund 800.000 Männer und Frauen zu den ukrainischen Streitkräften. 

Aber auch die Armeeführung hat einen Punkt. Kiews Truppen sind nach den langen Kämpfen sprichwörtlich ausgeblutet. Die verbliebenen Soldaten sind erschöpft. Einige Einheiten kämpfen bis auf kleine Pausen durchgehend seit Kriegsbeginn. Außerdem wäre eine bessere, also längere, Ausbildung für die Soldaten nötig. Aktuell kommen die Rekruten nach nur wenigen Wochen Vorbereitung an die Front. Das frustriert wiederum die Kommandeure und erfahrenen Soldaten, die in den Neuen häufig keine Hilfe sehen. Und: Der Krieg wird noch lange dauern. Ohne neue Soldaten wird die Ukraine ihren Abwehrkampf kaum durchhalten können. Ein schneller Sieg, wie er in diesem Frühjahr erhofft wurde, ist in weitere Ferne gerückt. 

Die Herausforderung für die Regierung: Wer sich freiwillig zum Kampf melden wollte, tat dies am Anfang des Krieges. Inzwischen werden viele Männer von der Straße weg zwangsrekrutiert; wer es sich leisten kann, kauft sich durch Bestechung vom Dienst an der Front frei (mehr hier). Gegenüber einem Reporter des „Wall Street Journal“ sprachen Soldaten kürzlich über ihre Frustration, wenn sie im Urlaub junge, fitte Männer in Fitnessstudios sähen, die bisher dem Dienst an der Waffe entgangen sind (Quelle hier). Wer unter 27 Jahre alt ist, wird aktuell nicht eingezogen. Statt den Jungen kommen inzwischen viele Ältere aus ärmeren Verhältnissen an die Front, die den Strapazen körperlich nicht gewachsen sind. 

Dass die Ukraine wohl doch auf eine weitere Rekrutierungswelle zusteuert, zeigen Aussagen des Verteidigungsministers, der ankündigte, auch nach Deutschland geflohene Männer einzuziehen (mehr hier). 

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Fieber, Schwindel und Erbrechen: Ratten und Mäuse sind offenbar ein Problem an der Front. Unter russischen Soldaten soll das von Tieren übertragene „Mäusefieber“ grassieren, heißt es aus dem Verteidigungsministerium der Ukraine. Mehr hier. 
  • Das russische Militär sieht die Ausdehnung der Nato in Europa als eine riskante Verschiebung des Kräftegleichgewichts. „Der europäische Kontinent ist in Politik und Wirtschaft zur Arena der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland geworden.“ Das sagte Generalstabschef Waleri Gerassimow am Donnerstag in Moskau vor ausländischen Militärdiplomaten. Als Beispiele nannte er den Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato, die Verstärkung von Bündniskräften in Osteuropa, im Ostseeraum und im Schwarzen Meer. Auf den Auslöser dieser Vorgänge, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022, ging Gerassimow dabei nicht ein. Mehr in unserem Newsblog.
  • Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hat den Kriegscharakter des russischen Angriffs auf die Ukraine infrage gestellt und sich mit seiner Wortwahl hinter Russlands Präsidenten Wladimir Putin gestellt. „Das ist eine Operation, solange es keine Kriegserklärung zwischen den zwei Ländern gibt“, sagte der rechtspopulistische Politiker am Donnerstag bei seiner Jahrespressekonferenz in Budapest. Damit reagierte er auf die Frage, weshalb er im Gespräch mit Putin zuletzt den Begriff „Krieg“ vermieden habe.
  • Russland hat ukrainischen Angaben zufolge seit Beginn seiner Invasion vor knapp zwei Jahren rund 7400 Raketen auf das Nachbarland abgefeuert. Auch seien 3700 der im Iran hergestellten Schahed-Kamikaze-Drohnen auf Ziele in der Ukraine geschickt worden, wie die Luftwaffe am Donnerstag in Kiew mitteilte. Die ukrainische Luftabwehr habe 1600 Raketen und 2900 Drohnen abschießen können, sagte Sprecher Juri Ihnat. 
  • Die EU hat die Auszahlung eines weiteren Hilfskredits für die Ukraine angekündigt. Wie Kommissionspräsident Ursula von der Leyen am Donnerstag mitteilte, geht es um die letzten 1,5 Milliarden Euro aus einem insgesamt 18 Milliarden Euro umfassenden Unterstützungsprogramm für 2023. Dieses war im Dezember vergangenen Jahres von den EU-Mitgliedstaaten vereinbart worden. Wie es mit den Finanzhilfen für das von Russland angegriffene Land im kommenden Jahr weitergeht, ist unklar.
  • Nach dem Regierungswechsel in Polen kommt Bewegung in den Streit mit der Ukraine um den grenzüberschreitenden Güterverkehr. Der ukrainische Minister für Infrastruktur, Oleksander Kubrakow, teilte am Donnerstag mit, er habe am Mittwochabend seinen neuen polnischen Kollegen Dariusz Klimczak getroffen. Ziel der aufgenommenen Gespräche sei ein Ende der Blockaden der Grenzübergänge zwischen beiden Ländern durch polnische Lkw-Fahrer, welche die ukrainische Wirtschaft stark belasten. 
  • Ab dem Herbst kommenden Jahres sollen Wehrdienstleistende in Russland ihre Einberufungsbescheide auf elektronischem Weg erhalten. Gemäß einem bereits geltenden Gesetz sollen die Rekruten dann für ihre Registrierung auch nicht mehr persönlich in den örtlichen Kreiswehrersatzämtern erscheinen müssen, wie aus dem am Donnerstag auf der Kremlseite veröffentlichten Dokument hervorgeht. 
  • Die Ukraine ist in der Nacht auf Donnerstag nach eigenen Angaben erneut von Dutzenden russischen Drohnen angegriffen worden. Russland habe das ukrainische Staatsgebiet „in mehreren Wellen“ mit insgesamt 35 Schahed-Kampfdrohnen iranischer Bauart attackiert, erklärte die ukrainische Luftwaffe am Donnerstag im Online-Dienst Telegram. 34 der Drohnen seien abgeschossen worden.
  • Das Team des verschwundenen inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny in Russland spricht Belohnungen für Hinweise über dessen Verbleib aus. „Wir haben eine Belohnung ausgesprochen für jeden, der uns verlässliche Informationen geben kann“, sagte Nawalnys Sprecherin Kira Jarmisch in einem Interview mit dem Nachrichtenportal ZDF heute. 
  • Die Ukraine setzt bei der Abwehr der russischen Invasion nach Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj verstärkt auf Drohnen aller Art. „Dies ist eine offensichtliche Priorität des Staates und ein sehr konkreter Weg, um das Leben unserer Soldaten zu retten“, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache am Mittwoch. Er habe bei einer Beratung mit Regierung und Militär in Kiew darüber gesprochen, was an Drohnen im Lager sei, was an der Front benötigt werde. „Die Logistik wird schneller sein“, sagte der Präsident. Man arbeite auch daran, die Effektivität von Drohnen zu verbessern.

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