zum Hauptinhalt
In Peking wird ein Covid-Patient in die Klinik eingeliefert.

© REUTERS / Reuters/THOMAS PETER

Kampf gegen die Omikron-Welle: Chinas verzweifelter Kurswechsel birgt enorme Risiken

Chinas Führung gibt ihre Null-Covid-Strategie auf. Doch sie hat es versäumt, Schutzbedürftige rechtzeitig zur Impfung zu ermutigen. Geimpft wird nun in die Omikron-Welle hinein.

Eine Woche nach der Lockerung der strikten Corona-Politik in China haben die Behörden des Landes den Überblick über die genaue Ausbreitung des Virus verloren. Die wahre Zahl an Infektionen könne nicht mehr angegeben werden, teilte die nationale Gesundheitsbehörde am Mittwoch mit.

Vize-Regierungschef Sun Chunlan sagte, dass die Zahl der Corona-Infektionen in Peking „rasant steigt“. Die Straßen der Hauptstadt waren am Mittwoch weitgehend leer.

Nach für China seltenen Protesten der Bevölkerung und angesichts der darbenden Wirtschaft hatte die Regierung einige der strengen Null-Covid-Restriktionen zurückgenommen und die Vorgaben für Massentests, Quarantäne und Isolierung gelockert. In den Staatsmedien spielt man die Gefahr durch das Coronavirus gezielt herunter.

Was China drohen könnte, haben Wissenschaftler aus Shanghai und den USA bereits im Mai prognostiziert. Durch eine Omikron-Welle könnten voraussichtlich 1,55 Millionen Chinesen sterben und das Gesundheitssystem zusammenbrechen.

Dabei braucht es keine theoretischen Modelle, um die Lage einzuschätzen, ein Blick nach Hongkong genügt: Dort spielten sich Anfang des Jahres dramatische Szenen ab, die jetzt auch auf China zukommen könnten. In der chinesischen Sonderverwaltungszone gab es Masseninfektionen, denn die Behörden hatten es nicht geschafft, die schutzbedürftige Bevölkerung zur Impfung zu ermutigen. Wegen der niedrigen Impfquote starben in Hongkong proportional zur Bevölkerungszahl mehr Menschen als in jedem anderen Land der Welt.

Auch China ist schlecht gewappnet. Denn bisher haben nur etwa 40 Prozent der über 80-Jährigen eine Booster-Impfung erhalten. Dabei hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärt, dass bei chinesischen Impfstoffen die Verabreichung von drei Dosen besonders wichtig sei, weil die Vakzine in der Regel weniger wirksam seien als mRNA-Impfstoffe.

1,55
Millionen Chinesen könnten einer Schätzung zufolge durch eine Omikron-Welle sterben.

Daher wird die Impfkampagne in China jetzt massiv hochgefahren. Die Schwierigkeit: Die Regierung muss die Bürger erst davon überzeugen, dass Covid-19-Impfstoffe ungefährlich sind. Besonders die ältere Bevölkerung ist impfskeptisch, weil die ersten chinesischen Impfstoffe nicht für Personen über 60 Jahre getestet wurden. So verbreitete sich die Fehlinformation, die Coronaimpfung für ältere Menschen sei nicht sicher. Daher ließen sich nur wenige impfen.

Mitten in der Omikron-Welle kann das nun fatal werden. Andere Länder, die zu Pandemiebeginn auch eine Null-Covid-Strategie verfolgt hatten, wie etwa Singapur, ließen erst Lockerungen zu, als in der Bevölkerung ein ausreichender Immunschutz aufgebaut war. China dagegen impft in die Welle hinein und lockert gleichzeitig.

Fachleute monieren falschen Ansatz Chinas

Experten sehen das kritisch. „Der Impffortschritt zusammen mit den Vorsichtsmaßnahmen bestimmt die Entwicklung“, sagt Viola Priesemann, Professorin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen. „Damit die Zahl der Infektionen stabil und somit kontrollierbar bleibt, dürfte eine infizierte Person im Schnitt nur eine weitere anstecken“, erklärt Priesemann und erinnert an den Reproduktionswert R. Liege dieser bei eins, bleibe die Zahl der Infizierten konstant.

Neben einer Impfkampagne braucht es quasi eine Übergangszeit, in der weitere Maßnahmen wie Tests, Quarantäne und Isolierung angewandt werden.

Viola Priesemann, Professorin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Dennoch reichen nach Ansicht Priesemanns Massenimpfungen allein nicht aus, um Chinas Gesundheitssystem zu entlasten: „Neben einer Impfkampagne braucht es quasi eine Übergangszeit, in der weitere Maßnahmen wie Tests, Quarantäne und Isolierung angewandt werden.“ Wenn das effizient geschehe, dann könnten die Fallzahlen vorerst moderat bleiben, die Krankenhäuser würden nicht überlastet, sagt sie. Hätten dann genügend Menschen einen ausreichenden Immunschutz gegen einen schweren Verlauf, könne man nach und nach lockern.

Seinen Schrecken hat das Virus wohl nicht verloren: Wie in Wuhan stehen Menschen in den Städten Schlange vor Kliniken und Praxen.

© Reuters/Martin Pollard

China hat sich aber jetzt schon für Lockerungen der Schutzmaßnahamen entschieden. Das scheint die Bevölkerung zu verunsichern. Berichte aus dem Land sprechen von einem Ansturm auf Krankenhäuser und Menschenschlangen vor Praxen, Kliniken seien überfüllt, Ärzte und Pflegepersonal infiziert. Angesichts der steigenden Infektionszahlen bevorraten sich viele Menschen mit Medikamenten, in Online-Netzwerken wird über ausverkaufte Arzneimittel berichtet. Die wachsende Nachfrage nach Medikamenten hat zu astronomischen Schwarzmarkt-Preisen geführt.

Die Staatsmedien bemühen sich, die Situation zu entspannen: Dort wird das Virus nun plötzlich als ungefährlich beschrieben. Die Bürger werden aufgefordert, nur im Notfall einen Arzt aufzusuchen. „Viele Chinesen sind daran gewöhnt, bereits bei leichten Symptomen zum Arzt zu gehen. Es braucht einen Kulturwandel, um in dieser kritischen Phase das Gesundheitssystem stabil zu halten,“ erläutert Vincent Brussee, Analyst beim Thinktank Merics in Berlin.

Nachdem die Null-Covid-Politik zuletzt eine Protestwelle im Land ausgelöst hatte, könnten nun eine Infektionswelle und die Überforderung des Gesundheitssystems das Regime in Bedrängnis bringen. Brussee glaubt, dass die Regierung durch das Abschalten der in der Bevölkerung verhassten Corona-Verfolgungs-App erst einmal Unterstützung zurück gewinnen konnte. Denn bei der Meldung eines Infektionsfalles in der App konnten ganze Wohnviertel unter Quarantäne gestellt werden.

Wenn das Gesundheitssystem der Situation gewachsen sei, müsse sich die Kommunistische Partei nicht um ihre Machposition sorgen, sagt Brussee. „Erst wenn in den Krankenhäusern Menschen im großen Maße nicht mehr behandelt werden können, könnte das die Stellung der Partei beeinflussen.“ Über allem schwebt die Frage, wer am Ende schneller sein wird, das Virus oder die chinesische Regierung mit ihrer Impfkampagne.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false