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Andrew Scott und Paul Mescal in „All Of Us Strangers“ 

© Parisa Taghizadeh/Disney/Parisa Taghizadeh

„All Of Us Strangers“ im Kino: Die Macht der Liebe

Regisseur Andrew Haigh erzählt in „All Of Us Strangers“ aufwühlend und gefühlspolitisch klar von Einsamkeit und dem Erwachen schwuler Begehren.

„Es sind Vampire an der Tür“, sagt der attraktive junge Mann (Paul Mescal), offensichtlich ziemlich betrunken, mit einem zweideutigen Lächeln. Eine merkwürdige Begegnung unter Nachbarn in einem Apartmenthochhaus, das bis auf die beiden leersteht – mit Blick auf die Londoner Skyline, aber schallisoliert und vom Leben abgesondert.

Hierhin, in den 27. Stock, hat sich der Autor Adam (Andrew Scott) zurückgezogen, und plötzlich steht dieser Fremde aus dem sechsten Stock an seiner Tür und spricht über Einsamkeit. Und über Vampire. Adam schließt die Tür. Eigentlich hätte ihm auffallen müssen, dass der andere, der sich später als Harry vorstellt, aus dem Song zitiert, den er selbst gerade bei einer Recherche in die eigene einsame Kindheit gehört hat, Franky Goes To Hollywoods „The Power Of Love“: „Ich halte die Vampire von deiner Haustür fern“, eine Einladung, gemeinsam die Einsamkeit zu überwinden.

So merkwürdig fängt eine der intensivsten Liebesgeschichten des aktuellen Kinos an, in der Menschen wie Fremdkörper in ihren Wohnungskapseln leben und für ihre Begehren Schutzschichten ausbilden.

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Adam schreibt ein Drehbuch, seine Geschichte ist auf das Jahr 1987 datiert, dem Jahr, in dem er zwölfjährig seine Eltern durch einen Autounfall verloren hat. Und in dem sein erwachendes schwules Begehren, für das ihm Frankie Goes To Hollywood 1983 noch einen „Pleasuredome“ versprochen haben, von staatlichen Sanktionen gegen Homosexualität (Clause 28) überlagert werden, und die Chiffren „Aids“ und „HIV“ den Pleasuredome schwuler Sexualität unauflösbar mit Tod und Krankheit verknüpfen.

Coming-out in der Aidskrise

Adam teilt diese Erfahrung des Coming-outs am Höhepunkt der HIV-Infektionszahlen und der gesellschaftlichen und politischen Ächtung von Schwulen in England mit dem 1973 geborenen Regisseur Andrew Haigh und Hauptdarsteller Andrew Scott. Und so, wie Haigh die sich vorsichtig entfaltende Liebesgeschichte und die Recherche in die Kindheit von Adam inszeniert, und wie Scott dies in Nuancen der Trauma-Verkapselung spielt, wird klar: Sie alle wissen sehr genau, worum es hier geht.

Adam (Andrew Scott) schreibt einen Roman über seine Kindheit und die Fremdheitsgefühle in seinem Elternhaus.
Adam (Andrew Scott) schreibt einen Roman über seine Kindheit und die Fremdheitsgefühle in seinem Elternhaus.

© Chris Harris/20th Century Studios

Und warum heute noch immer so beharrlich erzählt werden muss, was aus schwulen Männern wurde, die in ihren Familien, in der Gesellschaft und im politischen Diskurs zu Fremden wurden – die Körper in Gefahr, der körperliche Spaß unter Verdacht, die Trauer um die Gestorbenen ungeteilt, die Erfahrungen nichts wert. Entstanden ist daraus ein so herzzerreißend aufwühlender wie gefühlspolitisch klarer Film.

Durch Harry tritt eine neue Generation in diese Kapsel ein, die von anderen Verletzungen und neuen Einsamkeiten erzählt und dabei weitgehend schutzlos auftritt. Er nennt sich „queer“, Adam dagegen „schwul“, beides sind Identitätsbegriffe, die die Beleidigungen der Umwelt in leuchtende Selbstbeschreibungen umgewandelt haben.

Es gibt eine weitere Kapsel in diesem Film, die durch Adams Recherche aufgebrochen wird; ihre Hülle ist ein unscheinbares Familienhaus in einem Vorort im Süden Londons. Dort begegnet er seinen Eltern wieder, im Alter ihres Unfalls konserviert. Eine Setzung des Films, weil Adam mit ihnen noch eine Rechnung offen hat. Während sie nach seinem weiteren Leben nach ihrem Tod fragen, nach Beruf und Freundin, konfrontiert er sie mit seinen kindlichen Fremdheitsgefühlen. Das ist liebevoll, schmerzhaft, aber immer wieder auch sehr komisch.

Heteronormative Erwartungen

Claire Foy und Jamie Bell komplettieren das Kammer- (beziehungsweise Kapsel-)Spiel mit einer schauspielerischen Meisterklasse kleinbürgerlicher Herzlichkeit. Sie sagen nicht „queer“ oder „schwul“, sondern „homosexuell“, als der Sohn sein Outing ihnen gegenüber nachholt; sie verstehen ihre Versäumnisse, verlassen aber nicht das Skript heteronormativer Erwartungshaltungen. Auch der Witz an dieser Konstellation ist queer: Die Mutter bewundert den Körper des erwachsenen Sohns, sein erstes Treffen mit dem attraktiven Vater in einem Park ist wie eine Cruising-Szene inszeniert.

Erinnerungen an Weihnachten. Der kleine Adam mit seinen Eltern (Jamie Bell und Claire Foy).
Erinnerungen an Weihnachten. Der kleine Adam mit seinen Eltern (Jamie Bell und Claire Foy).

© Chris Harris/20th Century Studios

In einer schrägen Szene legt sich Andrew Scott im Kinderpyjama zu Claire Foy und Jamie Bell ins Bett. All diese Szenen funktionieren wie Kristallbilder, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander stürzen und durchlässig werden, um von Gefühlen zu erzählen, die nicht in aktueller gesellschaftlicher Akzeptanz aufgelöst worden sind.

Wie persönlich diese Anstrengung für den Regisseur ist, kann man daran ermessen, dass er Adams Besuche bei seinen Eltern tatsächlich in dem Haus in Sanderstead gedreht hat, in dem er selbst Mitte der 1980er Jahre aufgewachsen ist.

Der leicht dystopische Vibe, den das aktuelle London mit Blick vom 27. Stock eines unbewohnten Hochhauses bekommt, verhindert, dass der gesamte Film wie eine Geistergeschichte erscheint. „All Of Us Strangers“ erzählt schwebend von verbindender Fremdheit, sehr konkret im Schildern spezifischer Erfahrungen, aber auch ganz allgemeingültig in seiner emotionalen Verletzlichkeit.

Wenn am Ende eine mit Liebe zweier Männer angefüllte Kapsel in den Himmel aufsteigt, und die Streicher in „The Power Of Love“ genau zur Zeile „Make Love Your Goal“ einsetzen, strahlt sie nicht nur aus sich selbst heraus, sondern auch durch die von Tränen verschleierte Netzhaut des Publikums hindurch. Und die Vampire bleiben für diesen Moment außen vor.

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