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Documenta-Finale. Boxkämpfer Beuys (li.) besiegte 1972 Abraham David Christian in drei Runden nach Punkten.

© picture-alliance/ dpa

Die Documenta vor 50 Jahren: Als der Knockout zur Kunst wurde

1972 erfand der Kurator Harald Szeemann die Documenta neu. Zu seinen „Bildwelten“ gehörten plötzlich Kitsch, Werbung und Magie. Eine Erinnerung.

Die Tage waren heiß. West-Berlin war eingemauert, aber die Schlupflöcher in den Westen waren mit dem Transitabkommen deutlich größer geworden. Das war gerade ein halbes Jahr alt, als wir uns Anfang Juli 1972 frühmorgens auf den Weg nach Kassel machten. Autobahn bis Braunschweig, dann links ab und auf die andere Autobahn. Der schnellste Weg. In Kassel fand man damals noch Parkplätze mitten in der Stadt; wenig später sahen wir, dass manch einer sein Auto direkt hinter dem Fridericianum abstellte.

Also Documenta. Die fünfte Ausgabe, überall „d5“ gekürzelt. So steht’s auch auf dem Katalog, der genau genommen kein Buch, sondern ein Aktenordner ist. Am Fridericianum ging’s los; da, wo es immer losgeht. Der zweite Ausstellungsort, die Neue Galerie, wurde für spätere Stunden eingeteilt. Nie wieder war die Documenta, was die Zahl der Örtlichkeiten angeht, so überschaubar.

Nicht überschaubar hingegen waren die Zahl der Künstler, der Kunstwerke und sonstigen Objekte, vor allem: der Themen. „Befragung der Realität – Bildwelten heute“, lautete der Doppeltitel, den Harald Szeemann der d5 gegeben hatte.

Der Schweizer Kurator, der den „Ausstellungsmacher“ als eigenständigen Beruf quasi erfunden hatte und als Ein-Mann-Betrieb mit dem pfiffigen Namen „Agentur für geistige Gastarbeit“ einen Vorsprung herausschlug, den keiner seiner Nachahmer mehr einholte, war infolge einer Krise zu seinem Amt gekommen. Die bis dahin bestimmende, an Kopfzahl ausufernde Männerrunde kam mit einer so großen Ausstellung schlicht nicht mehr zurande.

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So wurde erstmals ein „Generalsekretär“ berufen, der sich ein Team suchte, aber Entscheidung und Verantwortung in seiner Person behielt. Szeemann, Jahrgang 1933, war mit der Verpackung der von ihm geleiteten Berner Kunsthalle durch Christo im Jahr 1968 weithin bekannt geworden und besaß dank seiner Ausstellung „When Attitude Becomes Form“ im Jahr darauf einen exzellenten Ruf in der Kunstszene.

Szeemann also war der Mann, um die stets von Finanzierungsproblemen geplagte Documenta in die Zeit „nach ’68“ zu führen. Die Reihe seiner für einzelne Themenbereiche berufenen Mitarbeiter vereint erstrangige Kenner der Szene, von Johannes Cladders bis Klaus Honnef; Kasper König war als „Gast“ dabei (sein Bruder Walther besorgte erstmals die Buchhandlung).

Bazon Brock hielt bereits zum zweiten Mal seine „Besucherschule“ ab, und der Werbespruch „Besser sehen durch documenta 5“, der einem allenthalben begegnete, schien geradewegs auf didaktische Vorabmaßnahmen gemünzt zu sein. Doch, bitte, es war 1972, die Studentenbewegung ebbte zwar ab, entfaltete aber gerade erst ihre gesamtgesellschaftliche Wirkung. „Mehr Demokratie wagen“, dieser historische Satz hallte überall nach.

Der alte Kunst-Begriff war weg, einfach weg

Von Politik war dennoch wenig die Rede in Kassel, wenn die Erinnerung nicht täuscht. Vielmehr, das Politische hatte sich ins Ästhetische eingenistet und von innen her aufgebrochen. Der alte Kunst-Begriff war weg, einfach weg. Was Szeemann und sein Team zeigten, war alles Mögliche, darunter auch Kunst; aber ebenso Werbung, Madonnenbildchen, Magazin-Cover, Kitsch, Geldschein-Design.

Und für das, was sich partout nicht in Kategorien wie Malerei, Skulptur undsoweiter zwängen ließ, fand Szeemann den griffigen Titel der „Individuellen Mythologien“, bis hin zu Sarg und Schwarzer Magie. Die Grenzen zwischen den Bereichen waren fließend.

Einst verstand sich die Documenta als „Museum der 100 Tage“. Szeemann wollte daraus ein „100-Tage-Ereignis“ machen, in einem frühen Konzeptpapier gar als „begehbare Ereignisstruktur“ für die ganze Stadt. Das gelang nicht. Überhaupt reichte der Anspruch weiter als die Realisierung; aber das wussten wir, das wusste der normale Besucher damals nicht.

Es gab schließlich genug zu sehen und zu erleben, darunter happening-artiges wie Ben Vautiers Banner „Kunst ist überflüssig“ auf dem Dach des Fridericianums oder die aus dem ehrwürdigen Museum herausgestülpte Luftblase „Oase Nr. 7“ der Architektengruppe Haus-Rucker Co. oder auch Panamarenkos noch so gerade in den größten Saal hineingedrücktes „Luftschiff“.

Jannis Kounellis ließ eine Ballerina tanzen

Das noch nicht restaurierte Fridericianum bewahrte den ruppigen Charme des kriegsversehrten Provisoriums. Die „Fibonacci-Reihe“ von Mario Merz kroch das weißgetünchte Rund des Treppenhauses hinauf, Richard Serra und Bruce Nauman zwangen den Besucher mit ihren Installationen in klaustrophobische Enge. Die Industriefotografien der Bechers überraschten erstmals, waren in ihrem konzeptuellen Charakter noch kaum erkannt.

Klaus Rinke ließ Wasser durch armdicke Schläuche zirkulieren, Jannis Kounellis eine Ballerina tanzen, und ganz oben breiteten sich unter der Dachschräge des Dachgeschosses die „Individuellen Mythologien“ aus, so wundersam wie wunderlich. Joseph Beuys hielt im Parterre Sprechstunden in seinem „Büro für direkte Demokratie“ ab, die langstielige Rose im Wasserglas. Es gibt Plastiktüten mit Aufdruck zu kaufen. Hätte man doch nur eine erworben.

In der Neuen Galerie gab es dann die Fülle der „Bildwelten“, die der Documenta-Titel meinte. Große Installationen wie das „Musée d’Art Moderne. Département des Aigles“ von Marcel Broodthaers, das „Mouse Museum“ von Claes Oldenburg, draußen in einem Zelt die furchtbare Vergewaltigungsszene „Five Car Stud“ von Ed Kienholz. Drinnen der ästhetische Schock der amerikanischen Hyperrealisten, Chuck Close, Don Eddy, Richard Estes; Peter Ludwig, las man später, habe en gros eingekauft. Auch für derlei war die Documenta berühmt.

Harald Szeemann bat Honecker in einem Brief um Leihgaben

In der Raumflucht mit politischen Plakaten, Werbefotos von Charles Wilp, Geldscheinen, „Spiegel“-Covern und der Abteilung „Bilderwelt und Frömmigkeit“ lernte man, dass alles „Bild“ sein kann oder längst schon ist. Dann, was man damals in aller Unschuld „Bildnerei der Geisteskranken“ nannte: Würde man Adolf Wölflis Zelle in der Heilanstalt Bern heute noch einmal nachbauen, um seinen in Jahrzehnten der Isolierung entstandenen Bildern – wahren Bildwelten! – den historischen Rahmen zu geben?

Szeemanns Methode war die einer radikalen Distanzlosigkeit, und dem Besucher blieb nichts anderes, als ebenso distanzlos zu gucken und alles aufzusaugen. Alles wurde gleichermaßen ernstgenommen und ergab in der Summe einen Kosmos der Bilder.

Die Kunst der sozialistischen Länder blieb eine Leerstelle. Bitte, 1972 herrschte unverändert Kalter Krieg. Szeemanns Anfragen blieben erfolglos, darunter eine ganz naiv per Brief an Erich Honecker: „Es war für die documenta-Leitung vom ersten Tag an selbstverständlich, dass der Sozialistische Realismus auf dieser documenta seinen Platz finden müsste.“

Intensiv bemühte er sich um die legendenumrankte Installation aus der chinesischen Kulturrevolution, den „Hof für die Pachteinnahme“, der, raunte man damals, auf dem schmalen Grundstück hinter dem Fridericianum Aufstellung hätte finden sollen. Die Ausleihe wurde, wie aus den viele Jahre später veröffentlichten Unterlagen ersichtlich, als „nationales Monument“ abgelehnt. Die DDR-Malerei kam dann fünf Jahre später zur documenta, vertreten durch die „Großen Vier“ der Leipziger Schule; da hatte der „Staatliche Kunsthandel der DDR“ seine Hand im Spiel. Und Ludwig kaufte erneut.

180 Künstler und über tausend Ausstellungsstücke

Man sah auf dieser Documenta mehr, viel mehr, als sich in einem Rutsch aufnehmen und im Gedächtnis behalten ließ. 180 Künstler und, berücksichtigt man alle Bild-Objekte, mehrere tausend Ausstellungsstücke. Man hätte gerne den Katalog befragt.

Der allerdings, in Gestalt eines Aktenordners mit zwei Dutzend Zwischenblättern für die einzelnen Kapitel und Abteilungen, mit Einband in hellem Orangerot und gestaltet von Ed Ruscha, kostete happige 65 D-Mark, was unter Besuchern einigen Unmut erregte.

220 000 kamen, für damalige Verhältnisse enorm viel. Wer die Documenta gesehen hatte und die Folgewirkungen spürte, merkte jedoch bald, wie unverzichtbar er war und noch sein würde. Ich erwarb mein Exemplar, heute eine Kostbarkeit, später aus einem Bücherstand am Steinplatz.

Die Kritiken an der documenta fielen, anders als man heute annehmen möchte, verhalten aus, oft sogar deutlich negativ. „Welches Thema hat nun eigentlich die documenta 5?“, fragte ratlos die „FAZ“, und das war noch freundlich gemeint. Harald Szeemann, sollte er die Zeitung gelesen haben, dürfte sein homerisches Gelächter ausgestoßen haben.

Denn die Verunsicherung, die Vermeidung begrifflicher Festlegung oder eben, wie der Titel es besagte, die „Befragung der Realität“ – das war doch gerade das Thema der d5. Alles fand in den „Bildwelten“ Platz, Kunst und Nicht-Kunst unterschieden sich, so gesehen, nicht mehr. Die Augen gingen einem auf. Eine so wundervolle, erlebnisreiche und erkenntnisfördernde Documenta hat es nie wieder gegeben.

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