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Im Jahr 1984 nahm Sibylle Bergemann dieses Bild in Ost-Berlin auf, es trägt den Titel „Birgit“.

© Estate Sibylle Bergemann/Ostkreuz/ Courtesy Loock Galerie, Berlin

Mode, Menschen, Momente: Als wir tanzten: Sibylle Bergemann in der Berlinischen Galerie

Sie gründete die Agentur Ostkreuz mit: Eine eindrucksvolle Werkschau zeigt Fotos der international erfolgreichen Berlinerin Sibylle Bergemann.

Der Engel ist abgestürzt. Wobei: Vielleicht ist er auch gelandet, und es hat ihm in Berlin so gut gefallen, dass er seine Flügel abgelegt hat. Jedenfalls liegen sie jetzt dort, in einem bröckelnden Hinterhof, festgehalten von Sibylle Bergemann 1994 in nebelverhangenem Schwarz-Weiß.

Die Arbeit scheint auf den ersten Blick wenig typisch für die vor allem für Modefotografie bekannte Künstlerin. Dabei vereint sie doch etliche Charakteristika, die sich über eine Spanne von viereinhalb Jahrzehnten auf den Bildern Bergemanns manifestiert haben. Da ist dieser genaue, beobachtende Blick, das Schwarz-Weiß, die unterschwellige Ironie – und natürlich Berlin als Schauplatz.

Vielseitigkeit und Kontinuität

Damit hätten wir schon zwei der wichtigsten Erkenntnisse, die sich in der Ausstellung „Sibylle Bergemann – Stadt Land Hund. Fotografien 1966-2010“ gewinnen lassen: Bergemann war vielseitiger, als man zunächst denkt. Und: Bei aller Vielseitigkeit lassen sich doch deutliche Kontinuitäten aus ihrem Werk herauslesen.

Für einen umfassenden Rückblick ist die Ausstellung in der Berlinischen Galerie wie gemacht. Rund 200 Arbeiten versammelt sie, 30 davon werden erstmals gezeigt. Der Zuwachs erklärt sich durch den Nachlass der Fotografin (1941-2010), verwaltet von ihrer Tochter und ihrer Enkelin, Frieda und Lily von Wild, mit denen die Galerie eng zusammengearbeitet hat. In anderthalb Jahren Vorbereitungszeit wurden daraus 4000 Positive gesichtet und knapp 1600 Kontaktabzüge digitalisiert.

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Das klingt viel, ist aber angesichts der Produktivität Bergemanns nur ein Anfang. Allein 2000 Filme habe sie zwischen 1966 und 1974 belichtet, heißt es in einem Ausstellungstext. Entwickelt hat die Fotografin die Filme am liebsten selbst, in einer Dunkelkammer bei sich zu Hause. In ihrer Wohnung in der Hannoverschen Straße, in der sie von 1967 bis 1976 mit ihrem Lebensgefährten, dem Fotografen Arno Fischer, und ihrer Tochter lebte, nahm die Dunkelkammer die Hälfte der Küche in Beschlag.

Kommt ein Engels geflogen. Aus der Serie „Das Denkmal“, Ost-Berlin im Februar 1986.

© Estate Sibylle Bergemann/Ostkreuz/ Courtesy Loock Galerie, Berlin

Die Ausstellung, zu der begleitend auch ein Podcast erscheint, thematisiert die Lebensorte Bergemanns: die Wohnungen in der Hannoverschen und am Schiffbauerdamm, aber auch die Rückzugsorte im Umland. Überall, wo die Familie ist, kommen andere Künstler:innen vorbei, um mit Bergemann und Fischer über Fotografie zu sprechen, zu trinken, zu tanzen und sich zu kostümieren. Auch das zeigt die Ausstellung.

Neben diesen „Backstage-Aufnahmen“ zeichnet sie die Karriere der Fotografin weitgehend chronologisch nach. Kuratorin Katia Reich – seit 2020 Leiterin der Fotografischen Sammlung, dies ist ihre erste große Schau für die Berlinische Galerie – scheut jedoch nicht davor zurück, das Werk gleichzeitig thematisch zu ordnen und Querverweise in andere Schaffensperioden einzubauen.

[Berlinische Galerie, bis 10. Oktober, Mi-Mo 10-18 Uhr. Galerie Klicken, Kaiserdamm 118, bis 9. September, Di-Fr 14-18 Uhr und nach Vereinbarung]

Dabei treten Parallelen zu Tage, die zeigen, wie sich der Blick Bergemanns mit ihrem Gegenstand verändert. Sie schaltet in verschiedene Modi, je nachdem, ob sie eine Modestrecke fotografiert – strenge, meist zentralperspektivische Ordnung, genauestens dirigiert –, Porträtaufnahmen macht – freier, suchender Blick, mit viel Respekt für die Abgebildeten – oder als zurückhaltende Beobachterin Momente auf der Straße festhält.

Die gebürtige Berlinerin ließ dabei stets einen Resonanzraum mitschwingen, der über das bloße Abgebildete hinauswies. Das gelang ihr auch in ihrer Auftragsarbeit „Das Denkmal“ für das DDR-Kulturministerium: Von 1975 bis 1986 begleitete sie die Entstehung des Marx-Engels-Denkmals, das gegenüber vom Palast der Republik aufgestellt werden sollte. Bildhauer Ludwig Engelhardt fertigte es auf Usedom, Bergemann besuchte ihn immer wieder. In der Berlinischen Galerie sind neun der 22 Arbeiten zu sehen, die sie letzten Endes für die Arbeit ausgewählt hat.

Behutsam entzaubert sie sozialistische Säulenheilige

Die Fotografin schaffte es, die Inszenierung der sozialistischen Säulenheiligen behutsam zu entzaubern, ohne dabei die Auftraggeber vor den Kopf zu stoßen. Wunderbar etwa, wie die Unterkörper von Marx und Engels vor dem monumentalen Ostseehimmel ihrer Vervollständigung harren.

Fast scheint es, als würden die Figuren in den Wolken über ihnen verschwinden. So navigierte sie zu DDR-Zeiten stets zwischen Autonomie und Kooperation, um ihren subjektiven Blick zu bewahren, den sie in Zeitschriften wie „Das Magazin“, „Sonntag“ und „Sibylle“ zeigen konnte.

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Mit ihrer Aufnahme in den Verband Bildender Künstler 1978 wurde es ihr möglich, Reisen ins westliche Ausland zu beantragen. In der Berlinischen Galerie sind Zeugnisse von Aufenthalten etwa in Paris und in New York zu sehen. Lang nach der Wende, 1999, verschlug es sie im Auftrag der „Geo“ in den Jemen. Von dort kehrte die Fotografin verändert zurück. Begeistert vom sanften, leicht milchigen Licht der Arabischen Halbinsel entdeckte sie die Farbfotografie für sich.

Wenn man in der Berlinischen Galerie den Raum betritt, in dem ihr Spätwerk gezeigt wird, glaubt man für Momente, man hätte sich in eine andere Ausstellung verirrt. Nach all den schwarz-weißen Eindrücken leuchten einem unvermittelt die Farben Jemens, Senegals, Malis und Ghanas von den Wänden entgegen.

Auch die "New York Times" beauftragte

Zu ihren Auftraggeber:innen gehörten mittlerweile Zeitschriften wie der „Stern“, „Spiegel“ und das Magazin der „New York Times“. Doch so andersartig ihre Farbarbeiten anmuten: Wenn Sibylle Bergemann 2000 in Ghana eine schwarzgescheckte weiße Ziege vor einer rosigen Häuserwand fotografiert, dann wirkt das nicht nur wie ein zahmer Widerhall eines ebenfalls gescheckten Wachhundes, den sie 1973 in Kasan fotografiert hat. Die Aufnahme zeugt auch vom noch immer wachen, präzisen Blick und dem Gespür für Ironie, die sie zu einer der bedeutendsten Fotografinnen Deutschlands werden ließen.

Ihr Vermächtnis lebt in Berlin auch an anderer Stelle weiter: Nicht nur in der Foto-Agentur Ostkreuz, die Bergemann 1990 mitbegründet hat, sondern ebenso am Kaiserdamm, wo die Galerie Kicken derzeit eine weitere Ausstellung mit Arbeiten der Künstlerin zeigt. Bis zum 9. September noch sind sie dort zu sehen – als vierter Teil der Reihe „Sheroes of Photography“.

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