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Ich-Erzählerin in dreifacher Ausgabe. Nina Bruns, Kathrin Wehlisch, Pauline Knof (v.l.)

© JR Berliner Ensemble

Annie Ernaux am Berliner Ensemble: Stirb, mein Fötus, stirb!

Die französische Literaturnobelpreisträgerin hat mit „Das Ereignis“ einen beklemmenden Prosatext über Abtreibung vorlegt. Auf die Bühne lässt er sich nicht einfach übersetzen.

Es gibt Texte, bei deren Lektüre man sich weniger fragt, wie man sie auf die Bühne bringen sollte, sondern ob. „Das Ereignis“ ist ein solcher. Es beschreibt die ungewollte Schwangerschaft einer Philosophiestudentin im Paris Anfang der 1960er Jahre – bis zu deren lebensgefährlichem Abbruch durch eine sogenannte „Engelmacherin“.

Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, die in diesem 2021 erschienenen, autofiktionalen Text von heute auf das „Ereignis“ zurückblickt, zeigt mit nüchterner Beschreibungsgenauigkeit, wie komplex sich darin Psychologie, Geschlechterrollenzuschreibungen, Macht- und Klassenfragen überlagern.

Beklemmend schildert sie die wachsende Verzweiflung der an ihrer Abschlussarbeit schreibenden Studentin; und zwar nicht nur angesichts der Illegalität und des „Stigmas“ einer Abtreibung, sondern auch wegen der plötzlichen Zurückgeworfenheit auf reine Körperlichkeit.

Präzise legt die Autorin auch das geradezu dialektische Verhältnis von Verachtung und Lüsternheit in den Reaktionen der Männer offen, die von der ungewollten Schwangerschaft erfahren – und erzählt damit mehr über Geschlechterverhältnisse als viele schlichte Appelle und Anklageschriften, die zurzeit zum Thema auf dem Markt sind.

Scheitern im Aufstieg

Vor allem aber verknüpft Ernaux das „Ereignis“ immer wieder mit ihrem großen Thema: der (Klassen-)Scham. Ebenso irrational wie wirkmächtig hat sich die „unverheiratete Schwangere“ als Symbol für Armut und Unterprivilegiertheit im Bewusstsein der Ich-Erzählerin verankert: „Im Sex hatte mich meine Herkunft eingeholt“, heißt es im Text, „und was da in mir heranwuchs, war gewissermaßen das Scheitern meines sozialen Aufstiegs.“   

Laura Linnenbaum, die sich den Stoff jetzt im Neuen Haus des Berliner Ensembles vorgenommen hat, ist gleichwohl nicht die erste Regisseurin, die das Inszenierungswagnis eingeht. Im Herbst letzten Jahres brachte Annalisa Engheben „Das Ereignis“ am Hamburger Schauspielhaus zur deutschsprachigen Erstaufführung – mit drei Schauspielerinnen, genau wie Linnenbaum am BE. Hier sind es Nina Bruns, Pauline Knof und Kathrin Wehlisch, die die Ich-Erzählerin in verschiedenen Altersstufen verkörpern.

Beim Lesen folgt man der Protagonistin immer tiefer in eine geradezu existenzielle Isolation hinein. „Das Ereignis“ markiert die Zäsur, die sie von der „normalen Welt“ ausschließt: eine zugespitzte Innerlichkeit – die auf der Bühne gezwungenermaßen veräußerlicht wird. Hinzu kommt speziell in dieser Inszenierung leider noch eine Neigung zu plakativer Bildsprache.

Es bedarf keiner überdurchschnittlichen Fantasie, vorherzusagen, was wohl in den folgenden neunzig Minuten mit den hellen Outfits der Schauspielerinnen passieren wird, wenn sie die mit nasser Erde verschmierte Bühne (Daniel Roskamp) betreten. Geht es im Text darum, wie die Protagonistin zu Beginn ihre Unterhosen auf erhoffte Regelblutspuren untersucht, muss Nina Bruns tatsächlich einen Schlüpfer nach dem anderen unter ihrem Rock hervorziehen, inspizieren und auf eine Wäscheleine hängen.

Stürzt sie sich später im Skiurlaub in der verzweifelten Hoffnung, eine Fehlgeburt provozieren zu können, auf die waghalsigsten Pisten, muss sie in Linnenbaums Inszenierung dem Fötus in ihrem Bauch in maximaler Lautstärke „Stirb!“ zubrüllen. In einer Musik- und Stroboskoplicht-Einlage werden außerdem mit Erde befüllte Plastiksäcke ekstatisch zum Platzen gebracht, und auch das unters Hemd gestopfte Kissen fehlt im Symbolrepertoire des Abends selbstverständlich nicht.

Vor allem Pauline Knof – die Protagonistin der mittleren Lebensphase – ist von der Regie zudem über weite Strecken auf einen merkwürdig lakonischen Ton verpflichtet worden, der offenbar empowernd wirken soll, aber oft ins Anekdotische kippt. Gerade der erkenntnisstiftende Mehrwert von Ernaux` tastender Schreibbewegung, in der sich die Autorin ihr damaliges Ich über dessen Versprachlichung überhaupt erst erschließt und es der gesellschaftlichen Einordnung zugänglich macht, geht hier leider in plakativer Behauptungsdramatik verloren. (Wieder am heutigen 19.2. und am 28.2. sowie am 1., 14. und 15.3.)

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