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Kultur: "Bach wird im Alter immer besser" - Ein Gespräch mit dem Dirigenten und Bach-Pilger John Eliot Gardiner

Gardiner gilt als einer der vielseitigsten Dirigenten unserer Zeit. 1943 geboren, wurde er in den 70er Jahren zunächst als Gründer des Londoner Monteverdi-Choir bekannt, bevor er eine internationale Karriere sowohl als Dirigent Alter Musik wie des traditionellen Repertoires bis hin zur Operette startete.

Gardiner gilt als einer der vielseitigsten Dirigenten unserer Zeit. 1943 geboren, wurde er in den 70er Jahren zunächst als Gründer des Londoner Monteverdi-Choir bekannt, bevor er eine internationale Karriere sowohl als Dirigent Alter Musik wie des traditionellen Repertoires bis hin zur Operette startete. Mit ihm sprach Jörg Königsdorf.

Sir John, Ihre Bach-Pilgrimage ist das größte aller Projekte zum Bach-Jahr 2000. Droht uns ein Bach-Overkill?

Das werden wir erst 2001 wissen. Aber eine zyklische Aufführung aller 198 Bach-Kantaten im Rhythmus eines Kirchenjahres, wie wir sie veranstalten, hat es vorher überhaupt noch nie gegeben. Das ist auch für mich eine Herausforderung, bei der ich jeden Abend Neues über Bach erfahre. Denn ich kann zwar bei mir zu Hause die verschiedenen Kantaten studieren - wie sie gegeneinander wirken, das sehe auch ich als Dirigent erst im Konzert.

Glauben Sie, bei so einer intensiven Beschäftigung auch dem Menschen Bach hinter den Partituren näherzukommen?

Zumindest seine Entwicklung als Künstler kann ich ganz unmittelbar nachvollziehen, gerade weil an fast jedem Sonntag Werke über das gleiche Thema aus ganz verschiedenen Schaffensperioden miteinander konfrontiert werden. In den frühen Kantaten ist Bachs Musiksprache noch viel bildhafter und für den Hörer leichter zu erfassen.

Das heißt, der spätere Bach wird abstrakter, spiritueller?

Was die Chöre in den Kantaten angeht, sicher. Da erreicht Bach in den späten Werken eine so komplexe, polyphone Stimmführung, dass man fast an die h-moll-Messe denkt. Vor allem erzählt jede Kantate etwas über die Bedingungen, unter denen sie entstanden ist. In den ersten Kantaten für Leipzig merkt man zum Beispiel ganz deutlich, wie unzufrieden Bach mit dem Niveau seiner Thomanerknaben war. Da singen die Soprane manchmal nur den schlichten cantus firmus, während die tieferen Stimmen das ganze Ornamentenwerk absolvieren. Bach war vor allem ein großer Pragmatiker.

Versuchen Sie bei Ihren Aufführungen, die Aufführungsbedingungen der Bachzeit zu rekonstruieren? Ihr Kollege Joshua Rifkin ist ja dabei sogar so weit gegangen, dass er ein Chorwerk wie die h-moll-Messe solistisch besetzt hat, weil Bach damals nicht mehr Sänger zur Verfügung hatte.

Ich glaube nicht, dass es eine absolute Bach-Wahrheit für uns Interpreten gibt. Alles ist relativ. Wenn ich mir alte Aufnahmen von mir anhöre, denke ich manchmal: Ja, ja, das hat man damals so gemacht, und in 30 Jahren werden die Leute vermutlich vom altmodischen Gardiner reden. Die Probleme, mit denen ich mich als Interpret beschäftigen muss, sind ja viel konkreter. Ich merke das gerade jetzt bei meiner Kantatenreise. Bei jedem Konzert muss ich in Tempo, Besetzungsstärke und Klangbalance auf eine andere Akustik reagieren und so pragmatisch sein, wie Bach es selber war.

Geht Ihr Pragmatismus auch so weit, dass Sie eine Bach-Passion mit den Berliner Philharmonikern spielen würden?

Natürlich haben moderne Sinfonieorchester ein Recht darauf, diese Musik zu spielen. Wie Klemperer die h-moll-Messe gespielt hat, war seinerzeit großartig und kann auch heute noch berühren. Nur ich selbst würde mir ein Bach-Chorwerk mit Sinfonieorchester nicht anhören wollen, weil ich es nicht so furchtbar spannend finde. Allerdings sind bei Bachs Chorwerken Besetzungs-Obergrenzen leichter auszumachen sind als bei Händel. Den "Messias" können Sie mit großen Chormassen viel besser aufführen.

Muss man eigentlich an Gott glauben, um ein guter Bach-Interpret zu sein?

Nein, als Musiker ebenso wenig wie als Zuhörer. Ich selbst glaube allerdings an Gott, wenn auch weniger im traditionell religiösen Sinn. Ich glaube an Gott durch die Stärke und Überzeugungskraft von Bachs Musik.

Werden Sie in diesem Jahr außer Bach überhaupt noch andere Musik dirigieren?

Nein, das wird für mich ein totales Bach-Jahr, obwohl gerade die Wiener Staatsoper angefragt hat, ob ich nicht bei ihnen die "Lustige Witwe" dirigeren wolle. Andere Sachen wie Verdis "Falstaff" kommen erst 2001 - dann ist übrigens Verdi-Jahr.

Sir John[Ihre Bach-Pilgrimage ist das grö&sz]

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