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Gamzou

© promo

Yoel Gamzou: In den Takt geraten

Er steht vor der Berliner Philharmonie, verteilt Flyer und wirbt für sein Konzert. Am Abend steht er dann im Frack am Pult. Dirigent Yoel Gamzou ist 22 – und ein Besessener.

Für andere mag es nur ein Fetzen Papier sein, das Fragment eines Briefes, vielleicht drei mal sieben Zentimeter groß. Für ihn aber ist es der größte Schatz, schützenswert, aufzubewahren hinter Glas, im maßgefertigten Rahmen. Mögen die Buchstaben auch nur schwer zu entziffern sein – es ist seine Schrift!

Yoel Gamzou verehrt den Komponisten Gustav Mahler seit Kindertagen. Mit sieben Jahre bekommt er eine Schallplatte in die Finger, Mahlers siebte Sinfonie, dirigiert von Leonard Bernstein. Schon nach den ersten Takten weiß er: „Das ist meine Musik. Das ist mein Leben.“

Mit zwölf entscheidet er sich, Dirigent zu werden, mit 15 geht er von zu Hause weg, von Tel Aviv nach New York, mit nichts in der Tasche als einem winzigen Startstipendium. „Mama, ich studiere jetzt in Amerika“ – Widerspruch zwecklos. Die Mutter lässt ihn ziehen.

Mit 19 meldet sich Yoel Gamzou beim renommierten Dirigierwettbewerb im fränkischen Bamberg an. Die Chancen sind minimal, es gibt 220 Bewerber auf 14 Plätze. Doch der Komponist, um den es hier geht, heißt: Gustav Mahler. Logisch also, dass Gamzou es wenigstens versuchen muss. Als die Einladung für die Finalrunde kommt, wird er fast bewusstlos vor Glück. Aber er fängt sich, findet die nötige Konzentration – und gewinnt einen Spezialpreis. Marina Mahler, die Enkelin des Komponisten, die der Jury vorgesessen hat, überreicht ihm höchstpersönlich ein Autograf ihres Großvaters.

Yoel Gamzou ist ein schmächtiger junger Mann mit dunklen Augen und einem leicht verrutschtem Mittelscheitel, er redet schnell, wenn er aufgeregt ist. Ein eher schüchtern wirkender Typ, der im Gespräch seine Hände erstaunlich wenig benutzt, der leise spricht und doch um sich herum ein starkes Energiefeld zu erzeugen versteht. Den 22-Jährigen einen Maestro zu nennen kommt einem nicht komisch vor. Schließlich ist er bereits seit drei Jahren Chefdirigent seines eigenen Ensembles, das er – wen wundert’s – International Mahler Orchestra nennt, mit dem er in London debütiert hat und das er nun am 10. September bereits zum vierten Mal in Berlin präsentieren wird.

Fragt man Gamzou, wo er seine Kindheit verbracht hat, antwortet er: „30 Prozent in Israel, 30 Prozent in Großbritannien, 30 Prozent in New York und zehn Prozent irgendwo.“ Sein Vater ist ihm früh abhandengekommen, die Mutter, eine Bildhauerin, hält es nie lange an einem Ort. Kein Wunder, dass sich ihr Sohn zu einem Komponisten hingezogen fühlt, der zeitlebens auf der Suche nach einer geistigen Heimat war. In seinen Sinfonien betreibt Gustav Mahler Psychoanalysen einer Epoche: Abendsonnenglanz der k. u. k. Monarchie und kommende Katastrophen, Dekadenz und Avantgarde, Fortschrittseuphorie und Leiden an der Moderne, alles findet sich in den monumentalen Werken wieder. Alles, was auch Yoel Gamzous Herz bewegt.

Schon als kleiner Junge fühlte er sich im falschen Film. „Ich wollte unbedingt 100 Jahre früher geboren sein, nicht 1987, nicht in Tel Aviv. Sondern im Wien Gustav Mahlers.“ Seine Mutter hat ihn wegen dieser Vergangenheitssehnsucht zum Psychiater geschleift – die Flausen konnte sie ihm nicht austreiben. Was ihn an der Welt von heute stört: „Alles ist zu leicht erreichbar. Wenn man früher etwas wissen wollte, klickte man nicht mal eben schnell auf Wikipedia. Man ging in die Bibliothek – und mit etwas Glück fand man dort nicht nur das richtige Buch, sondern stieß noch auf andere anregende Dinge.“ Das Zeitalter der unbegrenzten Verfügbarkeit, findet Yoel Gamzou, produziert vor allem Fachidioten, Ruckzuck-Denker ohne geistigen Horizont, gerade auch bei den Musikern. „Technisch können sie alles, aber frage sie bloß nicht nach dem historischen Kontext, in dem ein Werk entstanden ist!“

Euphorisch schwärmt Yoel Gamzou von den Strapazen einer Bahnreise zu Gustav Mahlers Zeiten: Weil Körper und Geist nur dann im Einklang sind, wenn sich beide mit derselben Geschwindigkeit fortbewegen. Wird dagegen die äußere Hülle mit 800 Stundenkilometern von einem Land in ein anderes katapultiert, kommt man am Zielort nur als halber Mensch an. Die überforderte Seele trifft erst mit mehreren Stunden Verspätung ein. Natürlich hasst er Computer. In der Mitte seines Esstisches thront symbolisch eine alte Schreibmaschine. Und doch ist er gleichzeitig auch der Sklave seines E-Mail- Accounts. Wie soll er sonst mit denen in Kontakt treten, die er braucht, um seinen Traum leben zu können?

Wenn Yoel Gamzou von den Menschen spricht, die besonders prägend für sein junges Leben waren, geht es ausschließlich um alte Leute, um Personen, die ihm Brücken bauen konnten in frühere Zeiten. Drei Dirigenten verehrt der junge Mann wegen ihres unbedingten Ausdruckswillens: Wilhelm Furtwängler, Carlos Kleiber und Carlo Maria Giulini. Der Italiener ist der Letzte des Trios, der 2004 noch lebt, zurückgezogen in seiner Mailänder Wohnung, 88-jährig. Also ruft Yoel Gamzou alle Giulinis an, die im örtlichen Telefonbuch stehen, gerät auch tatsächlich an den Sohn seines Idols: Doch der blockt das Ansinnen ab. Wochenlang kampiert der mittellose Gamzou auf dem Bahnhof, klingelt immer wieder durch, bettelt so lange, bis der entnervte Sohn ihm fünf Minuten Audienz beim Vater ermöglicht. Es werden drei Jahre daraus, bis zum Tod Giulinis 2006. Sie reden viel über den Geist der Partituren und wenig über die Techniken des Taktschlagens. „Wenn du im Kopf weißt, wie es sein soll“, erklärt der Meister seinem Schüler, „dann werden die Hände schon folgen.“ In dieser Zeit beginnt Yoel Gamzou auch damit, Gustav Mahlers unvollendet hinterlassene zehnte Sinfonie zu rekonstruieren: Es sind zwar bereits mehrere Fassungen dieses Werkes auf dem Musikmarkt – doch das stört ihn nicht. Er will, er muss sich das rätselhafte Vermächtnis seines Lieblingskomponisten selber aneignen.

Typen wie Yoel Gamzou lösen Beschützerinstinkte aus. Weil sie im System heute eigentlich nicht mehr vorgesehen sind. Unbeirrbare, die gegen Mauern rennen und sofort wieder aufstehen. Weil sie nicht anders können, weil sie keine Umwege akzeptieren. „Ich bin total schlecht darin, mich zu verkaufen“, sagt Gamzou, und man glaubt es ihm sofort. Für die normalen Vertriebswege einer Karriere ist er definitiv nicht geeignet. Das aber fasziniert ja seine pragmatischer veranlagten Zeitgenossen gerade. Seit Jahren überweist ein unbekannter Wohltäter jeden Monat Geld auf sein Konto. In Berlin wohnt er anfangs in einer Traumwohnung in der Uhlandstraße, die ihm eine flüchtige Bekannte zur Verfügung stellt. Kai-Bernhard Schmidt, der bei den Berliner Philharmonikern die Abteilung „Künstlerische Produktion“ leitet, unterstützt ihn, wo er kann, besorgt Probenräume, leiht ihm Instrumente aus, macht Kontakte zu Toningenieuren. Als Yoel Gamzou bei seinem ersten Berliner Konzert vor Aufregung die Manschettenknöpfe zu Hause vergisst, steckt ihm Schmidt lächelnd ein Ersatzpaar zu. Erst nach dem Schlussapplaus verrät er Gamzou, dass es sich um Manschettenknöpfe von Simon Rattle handelt, Fundstücke aus der Garderobe des Philharmoniker- Chefs. Der junge Dirigent spürt die Zuneigung, die ihm entgegengebracht wird. Er nimmt sie an, dankbar, staunend.

Ganz nebenbei, mitten auf der Straße, kann Gamzou aber auch Dinge sagen, die seinen Gesprächspartner straucheln lassen, Sätze aus der Rubrik „Genie und Wahnsinn“: Von seinen aktiven Dirigentenkollegen, auch den Größten, lässt er eigentlich keinen gelten: „Die liefern doch nur einstudierte Choreografien ab.“ Nein, als Kapellmeister an ein Stadttheater zu gehen, um dort den Betrieb von der Pike auf kennenzulernen, das kommt überhaupt nicht infrage: Was nütze ihm denn das feste Gehalt, wenn es vielleicht bedeutet, jahrelang Proben vom Klavier aus zu leiten, bis man endlich die erste eigene Produktion bekommt, natürlich eine Operette. „Meine Regel lautet: Lebe so, dass du morgen sterben könntest – stolz auf das, was du gemacht hast.“

In der Praxis sieht das dann so aus: Im Juni 2006 betritt Yoel Gamzou den Bühneneingang des Londoner Konzertsaals „St. John’s Smith Square“ und erklärt dem verdutzten Manager, er werde hier in sechs Monaten einen Abend mit seinem Ensemble geben. Warum, mag man sich fragen, beschließt ein mittelloser 18-Jähriger, in einem 600-Plätze-Saal mit eigener Musikertruppe aufzutreten, von der zu diesem Zeitpunkt gerade mal eine Idee existiert? Und warum legt ein erfahrener Veranstalter diesem Milchbubi tatsächlich einen Mietvertrag hin?

Vielleicht muss man zuerst die Anekdote mit dem Ölgemälde erzählen: Yoel ist acht, als er im Schaufenster einer Galerie ein 700 Dollar teures Bild entdeckt, das ihn fasziniert. Er betritt den Laden und erklärt der Besitzerin: Gib mir das Bild, und ich werde jede Woche wiederkommen, mein Taschengeld abliefern, bis die Summe abbezahlt ist. Er darf das Gemälde mit nach Hause nehmen. Bei insgesamt sieben Umzügen war das Bild schon dabei, zusammen mit Hula, der Katze, die er einst aus dem gleichnamigen See im Norden Israels gefischt hat und die er Gästen als „meine Gattin“ vorstellt.

Im Sommer 2006 klemmt sich Yoel Gamzou ans Telefon, ruft jeden Musiker an, den er kennt. Er möchte nicht irgendein Orchester zusammentrommeln, sondern etwas ganz Neues schaffen: eine Truppe, in der erfahrene Profis neben Studenten sitzen, in der die Nachwuchsinstrumentalisten vom Wissen der Alten profitieren und diese sich wiederum vom Feuer der Jugend neu entzünden lassen können. Das Wagnis gelingt. Gamzou engagiert sich selber als Mädchen für alles, die Leute strömen, die Kritiken sind ermutigend. Gamzou will mehr. Für den zweiten Auftritt des International Mahler Orchestra im Juni 2007 gewinnt er Guy Braunstein, den Konzertmeister der Berliner Philharmoniker. „Nach dem Auftritt sagte er zu mir: Pack deinen Koffer und geh nach Berlin!“ Und Gamzou folgt dem Ruf, kommt die ersten Wochen bei dem Geiger unter, verliebt sich in die Stadt.

Inzwischen wohnt er in Wilmersdorf, gleich hinterm KaDeWe. Das Kaufhaus nützt Gamzou wenig, weil er es sich nicht leisten kann, dort einzukaufen. Aber die Nähe zur Fasanenstraße gefällt ihm: Im Literaturhaus-Café sitzt er fast täglich und studiert Partituren. „Ich bin kein Prenzlauer-Berg-Typ“, sagt er. „Mir gehen schon genug komische Sachen im Kopf herum. Die brauche ich nicht auch noch draußen auf der Straße.“ Künstlertum, wie Yoel Gamzou es sieht, hat nichts mit äußerer Erscheinung zu tun. Er kleidet sich unauffällig, gedeckte Farben. In Paris hat er damals im Marais gewohnt. „Alle, die da auf der Straße rumliefen, wollten unbedingt wie Künstler aussehen. Aber sie haben garantiert nicht in einem Acht-Quadratmeter-Loch gehaust, so wie ich.“

Für kommenden Donnerstag hat sich Yoel Gamzou wieder den Kammermusiksaal der Philharmonie gemietet. 1180 Plätze sind zu füllen, beim Programm wird mächtig aufgetrumpft, mit einer eigens fürs International Mahler Orchestra komponierten Uraufführung, dem Doppelkonzert von Brahms sowie Teilen aus Gustav Mahlers unvollendeter zehnter Sinfonie. Die Musiker spielen wieder ohne Gage, fliegen mit Easyjet, wohnen in der Jugendherberge, um bei dem No-Budget-Projekt dabei zu sein. Dennoch wird es wahrscheinlich ein Minusgeschäft werden. „Was bedeutet mir Geld?“, antwortet Gamzou jedem, der ihn vor einem finanziellen Desaster warnt. „Es geht ums Gemeinschaftsgefühl, dieses Orchester ist wie eine Familie für mich.“

Als Preisträger des Dirigierwettbewerbs durfte er 2007 ein Programm mit den berühmten Bamberger Symphonikern einstudieren: Als er bei der ersten Probe auf jene Arbeitshaltung stieß, die in Musikerkreisen „Dienst“ genannt wird, raunzte er die Profis an: „Wer keine Lust hat, Musik zu machen, der kann gerne nach Hause gehen!“ Keiner ging. Aber wieder eingeladen haben sie ihn auch nicht.

Erfahrungen wie diese machen ihm das International Mahler Orchestra so teuer. Darum wird er sich jetzt abends wieder vor die Philharmonie stellen und Handzettel für das Konzert verteilen, bei dem er dann selber als Maestro im Frack auf dem Podium steht. „Daniel Barenboim hat zu mir gesagt: Warum verschwendest du deine Kraft mit einem eigenen Orchester?“, erzählt er. „In der Zeit, die dich das Organisieren kostet, kannst du andere Orchester dirigieren und deinen Namen bekannt machen.“ Der Staatsopern-Chef und Yoel Gamzou leben einfach nicht in derselben Welt.

Frederik Hanssen   

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