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Im West-Berlin der Fünfziger. Dahin kommt Daniel, der Held des Romans „Unterm Staub der Zeit“, um das Gymnasium zu besuchen.

© imago/Gerhard Leber/Gerhard Leber

Christoph Heins neuer Roman „Unter dem Staub der Zeit“: Die Rhetorik der Demagogen

Der Berliner Schriftsteller erzählt in seinem Roman von einer Jugend im Westberlin der 1950er Jahre – ein keinesfalls staubiger, sondern erstaunlich aktueller Rückblick.

Von Carsten Otte

In seinen besten Romanen blickt der Schriftsteller Christoph Hein in die deutsche Vergangenheit zurück, um von den großen Krisen Europas im 20. Jahrhunderts zu erzählen. Hein breitet seine historisch versierten Geschichten, die oft biographisch grundiert sind, mit nahezu chronistischer Genauigkeit aus.

Staubig sind diese Romane dennoch nicht, auch weil sie viel über aktuelle Konfliktlagen erzählen, ohne diese explizit zu erwähnen. So ist das auch in seinem neuen Prosawerk „Unterm Staub der Zeit“, das vom vierzehnjährigen Daniel erzählt, der 1958 aus seiner ostdeutschen Heimatstadt Guldenberg nach Westberlin kommt, um dort aufs Gymnasium zu gehen.

Als Pfarrerssohn darf Daniel in der DDR kein Abitur machen. So begleitet der Vater den schüchternen, aber aufmerksamen Jungen nach Grunewald. Schon an der Grenze wird der Irrsinn der damaligen Zeit deutlich. Die Polizisten finden einige Lehrbücher im Gepäck. Griechisch! Latein! Hochverdächtig. Dann fällt dem Grenzer ein Lexikon mit kyrillischen Schriftzeichen in die Hände. Der Polizist ist erfreut und spricht von einem nützlichen „sowjetischen Wörterbuch“.

Der Vater kann es nicht lassen, den Grenzer zu belehren, dass es eine sowjetische Sprache nicht gebe, es handele sich vielmehr um Russisch. Die Pockennarben des Uniformierten verfärben sich, und am liebsten würde er den neunmalklugen Mann verhaften. Aber er hat wohl Angst, sich lächerlich zu machen, also dürfen Vater und Sohn die Zonengrenze passieren.

Christoph Hein, Schriftsteller, wurde 1944 geboren.

© Heike Steiweg

Kaum im Westen angekommen, wird Daniel in den sogenannten C-Zweig des Gymnasiums eingeteilt, in dem ausschließlich Schüler aus der DDR sitzen. Integration war damals noch keine Maßgabe, und die Pädagogik beschränkte sich zuweilen auf Wutreden gegen „die Machthaber im Kreml“. Der Kalte Krieg fand auch im Klassenzimmer statt, doch die Pennäler kümmerten sich nicht um die Weltpolitik. Die viel wichtigere Frage lautete: Wie in der Freizeit ein paar Groschen verdienen? Daniel arbeitet als Zeitungsverkäufer und kann sich schon bald eine Erbsensuppe in Aschingers „Stehbierhalle“ leisten. Das Essen im Schulheim ist ungenießbar.

Die Beschreibungen der ruppigen Verhältnisse sowohl im Internat als auch draußen in der Stadt sind detailgenau und wirken so authentisch, dass sich die Frage, ob der Autor eigene Erfahrungen einfließen lässt, nahezu obsolet ist. Dennoch bzw. gerade deshalb wahrt Christoph Hein zu den Erlebnissen eine sprachliche Distanz. Nie schreibt er aus der Perspektive persönlicher Betroffenheit, und schon gar nicht als Moralist. Das macht seine Romane in Zeiten, in denen ständig mit großer Aufregung über aktuelle Befindlichkeiten oder die Deutung vergangener Epochen gesprochen wird, allein durch ihre lakonische Tonlage zu Werken der Aufklärung.

Der Starprediger Billy Graham

Tatsächlich erinnern viele Szenen in „Unterm Staub der Zeit“ an aktuelle Phänomene. So besuchte Daniel auch den Auftritt eines amerikanischen Erweckungspredigers an. Billy Graham teilte in seiner Predigt die Welt in Gut und Böse auf; er bezeichnete die politischen und religiösen Lager entweder als wonderful oder als terrible. Sein Vokabular war begrenzt, aber immer eindeutig.

Insta-Herzchen oder Facebook-Daumen, Tränen lachende Smileys oder Wut-Emojis gab es damals noch nicht, aber die Stimmung unter den Anwesenden entsprach durchaus der üblichen Social-Media-Atmosphäre. Daniel und seine Freunde streckten zum umjubelten Schluss der Rede ihre Arme allerdings nicht in die Höhe, sondern blieben sitzen, was ihnen „böse Blicke der Menschen um uns herum einbrachte.“

Die Prosa ist für Hein nur eine Fingerübung

Selbstverständlich sind Billy Graham und seine Heilslehren keine Fiktion. Genauso wenig wie ein im Buch beschriebenes Rockkonzert von Bill Haley, das in einer Massenschlägerei endete. Daniel bleibt als Ich-Erzähler bei diesen Ereignissen ein nicht wirklich involvierter Zuschauer; er wird sich bald auf das konzentrieren, was ihn wirklich umtreibt, nämlich das Theater. Womit sich wieder der biografische Bogen schließt. Christoph Hein hat einmal gesagt, er verstehe sich vor allem als Dramatiker, die Prosa sei nur eine Fingerübung. Ein Großteil auch des neuen Romans sind Dialoge, als habe der Autor seine literarische Leidenschaft für die Bühne nicht verloren.

Historische Autofiktion

Christoph Hein schrieb schon historische Autofiktion, als es diesen Begriff noch nicht gab. Tatsächlich wäre es überflüssig, seine Prosa zu etikettieren. Längst gehören seine früheren Romane „Horns Ende“ oder „Willenbrock“, aber auch Spätwerke wie „Trutz“ oder „Glückskind mit Vater“ zum Kanon deutsch-deutscher Literatur. Hein tritt nur noch selten auf, weil er jede Minute zum Weiterschreiben nutzen möchte.

Wenn er wie auf der vergangenen Leipziger Buchmesse doch mal aus dem neuen Werk liest, sind seine Veranstaltungen selbst in größten Sälen ausverkauft. Der 1944 im oberschlesischen Heinzendorf geborene Schriftsteller sucht auf dem Podium dann das kritische Gespräch vor allem mit nachfolgenden Generationen; sein öffentliches Nachdenken über die Gegenwart ist gewiss das Gegenteil von den missionarischen Auftritten eines Graham, vielmehr ein ironisches Reflektieren, das keiner kollektiven Zustimmung bedarf. Gerade deshalb ist der Autor bis heute so beliebt. Mit „Unterm Staub der Zeit“ ist Christoph Hein abermals ein Roman gelungen, der sich wie ein Klassiker liest.      

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