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Eine Zeichnung aus „Die letzte sowjetische Künstlerin“ .

© Victoria Lomasko / Diaphanes

„Die letzte sowjetische Künstlerin“: Der lange Schatten des Imperiums

Victoria Lomasko erforscht mit Texten und Zeichnungen das sowjetische Erbe. Jetzt ist ihr neues Buch mit Reportagen aus Kirgistan, Belarus und dem Kaukasus auf Deutsch erschienen.

Als Victoria Lomasko („Die Unsichtbaren und die Zornigen“) 2015 in der russischen Teilrepublik Dagestan unterwegs war, erfuhr sie das Erbe der Sowjetunion am eigenen Leib: Ein örtlicher Schriftsteller in Kidero, der um Aufmerksamkeit für die Zwangsumsiedlung der Dagestaner von 1944 kämpft, läuft zu Fuß durch den Regen, um sie zu treffen und mit seinem Anliegen zu Putin durchzudringen. „Als sich herausstellte, dass ich keine Verbindungen zum Präsidenten habe, obwohl ich in Moskau lebe, war er sichtlich enttäuscht.“

Vielleicht sind es Erlebnisse wie diese, die die inzwischen im Exil in Leipzig lebende russische Zeichnerin dazu veranlassten, ihr drittes Reportage-Buch halbironisch „Die letzte sowjetische Künstlerin“ (Übersetzt von Sandra Frimmel, Diaphanes, 288 S., 30 €) zu nennen.

Denn egal wo sie in ihren Reisen durch die ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgistan, Armenien, Georgien, Dagestan, Inguschetien und Belarus ist: Überall ist die Erinnerung an den früheren Einfluss Russlands spürbar.

Gezeichnete Reportagen: Eine Szene aus „Die letzte sowjetische Künstlerin“.

© Diaphanes

Genau diesem Erbe nachzuforschen war das Ziel der Reisen, die die feministische Künstlerin zwischen 2014 und 2020 unternommen hat. Wie in ihren anderen Büchern tut sie das in Form gezeichneter Reportagen, einer Mischung aus Text und Comic. Lomaskos stark stilisierter, zweidimensionaler Stil erinnert mit seiner eckigen Sachlichkeit selbst entfernt an sozialistische Kunst.

Stalin-Stockholm-Syndrom

Die Beziehungen der verschiedenen Länder zu Russland sind kompliziert, etwa in Kirgistan, wo ein Gesetz, das ähnlich wie in Russland sogenannte „ausländische Agenten“ verfolgen sollte, 2017 abgelehnt wurde, das in Sachen LGBTQI-Feindlichkeit aber ganz auf russischer Linie ist.

Victoria Lomasko stellt ihr Buch bei einer Veranstaltung am 2. Mai um 19.30 Uhr im Espace Diaphanes vor (Dresdener Str. 118, Berlin-Kreuzberg). 

© Victoria Lomasko

Das muslimisch geprägte Land ist auch eine der wenigen ehemaligen Sowjetrepubliken, die die sowjetischen Symbole und Denkmäler nicht aus dem öffentlichen Raum verbannt haben. „Viele kommunistische Grundwerte kommen aus dem Koran“, sagt ein Mitglied der Kommunistischen Partei Kirgistan.

Eine weitere Szene aus „Die letzte sowjetische Künstlerin“.

© Diaphanes

Gerade bei Älteren ist die Erinnerung an die Sowjetzeit lebendig, oft in einer Art von Stockholm-Syndrom: Der dagestanische Schriftsteller, der auf das Unrecht der Deportationen aufmerksam machen will, lässt nichts auf Stalin kommen: „Meine Frage, »Wieso beschreiben Sie in Ihrem Buch die Stalinzeit als gerecht und das System als fürsorglich?«, verärgerte den Autor. »Konnte Stalin denn etwa sehen, wie die Deportation vor sich ging?«“

Konservativer als zu Sowjetzeiten

Das Verhältnis zur russischen Sprache ist ambivalent: Während man sie in Armenien als aufgezwungen erlebt, wird sie in Kirgistan als Lingua franca geschätzt. Worin sich aber fast alle bereisten Länder gleichen, ist die Unterdrückung von Frauen und LGBTQI-Personen: Familie und Patriarchat stehen über allem, Mädchen werden jung verheiratet und müssen oft den Clans ihrer Ehemänner dienen.

Eckige Sachlichkeit: Eine Demonstrationsszene aus dem besprochenen Buch.

© Diaphanes

Ehrenmorde sind im Nordkaukasus keine Seltenheit und in ländlichen Gebieten von Dagestan wird sogar noch die weibliche Genitalverstümmelung praktiziert. Auch in Armenien gelten Frauen als Menschen zweiter Klasse: „Das Land liegt auf dem dritten Platz nach China und Aserbaidschan, was geschlechtsselektive Abtreibungen angeht“, so Lomasko.

Das Frauenbild in der Sowjetunion war fortschrittlicher und manche der Älteren erinnern sich noch daran: „Nur meine Großmütter möchten, dass ich weiter zur Schule gehe, und sie freuen sich, wenn ich kurze Kleider trage“, sagt eine Kirgisin gegenüber Lomasko.

Eine weitere Szene aus „Die letzte sowjetische Künstlerin“.

© Diaphanes

Im Vorwort erzählt Lomasko von den Bildern in sowjetischen Kinderbüchern, mit denen sie aufgewachsen ist: „Kaukasische Berge, asiatische Steppen, Menschen in bunten Gewändern und mit Früchten in den Händen, und dazu das wichtigste, sich stetig wiederholende Motiv von fünfzehn Kindern unterschiedlicher Nationalitäten, die miteinander einen Reigen tanzen.“

Ohne es auszusprechen, scheint Lomasko diesem überkommenen Bild mit ihrem Buch einen neuen Sinn zu verleihen: Nämlich indem sie nicht als Kolonisatorin, sondern als weltoffene Kosmopolitin in diese Länder reist, den Menschen vor Ort zuhört und ihnen mit Respekt begegnet. Es ist, als sei ein kleiner Funke der kommunistischen Ideale aus ihrer Kindheit noch in ihr und ihren Zeichnungen lebendig.

Lomasko wirft einen neugierigen und empathischen Blick auf Regionen, für die sich weder Europa noch Russland sonderlich interessieren, und spricht in diesen Ländern mit jenen, die sonst kaum eine Stimme haben. Es lohnt sich, ihnen zuzuhören.

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