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Eine der letzten Legenden. Wayne Shorter.

© dpa/Anthony Anex

Der bescheidene Gigant: Zum Tod des Jazzsaxofonisten Wayne Shorter

Schon in den Bands von Art Blakey und Miles Davis war er auf dem Weg zu Legende. Doch in hohem Alter hob er das Ensemblespiel mit einem eigenen Quartett noch einmal auf eine neue Ebene.

Von Gregor Dotzauer

Ein Ton genügte, einer dieser lang gezogenen, jeden Klangnebel zerteilenden und dann wieder in die Unendlichkeit davonschwebenden Töne seines Sopransaxofons, und man wusste: Dieser Sirenengesang kann nur von einem Musiker stammen. Wayne Shorters oboenhafte Schärfe tauchte jede Umgebung in ein intensiveres Licht.

Dass ihm dies inmitten einer Bigband ebenso glückte wie im Duo mit seinem alten Pianistengefährten Herbie Hancock, ist weniger verwunderlich, als dass es ihm auch bei Joni Mitchell gelang. Ihre Musik wäre nicht dieselbe, wenn ihr Shorter, Seite an Seite mit dem Bassisten Jaco Pastorius (auf „Don Juan’s Reckless Daughter“ und später auf „Mingus“) nicht etwas von jener schmerzlichen Schönheit geschenkt hätte, die in der Orchesterfassung von „Both Sides Now“ ihren Höhepunkt erreicht.

Und wie gerieten die Dinge erst in Bewegung, wenn Shorter, der damals schon ein halbes Leben im Jazzolymp hinter sich hatte, in heimatlicheren Gefilden seine ganze Virtuosität ausspielte. Äußerste Sparsamkeit paarte sich mit Anfällen rauschhafter Verschwendungslust. Weather Report, die Fusionband, die er 1970 zusammen mit dem Pianisten Joe Zawinul gegründet hatte, stocherte anfangs noch gewaltig in den Feuern des elektrischen Miles Davis, und im Funkenflug entstanden Klangbilder von halluzinatorischer Kraft. Aber auch, als Weather Report glatter und tanzbarer wurden und sich der meisten Stücke eine federnde Eleganz bemächtigte, behielt Shorter seine Ecken und Kanten, das hart Zupackende und das sich kieksend Überschlagende.

Struktur und Prozess

Sein letztes akustisches Quartett, an dem mit Bassist John Patitucci, Pianist Danilo Perez und Schlagzeuger Brian Blade stilprägende Musiker deutlich jüngerer Generationen beteiligt sind, definierte in seinen letzten Lebensjahrzehnten noch einmal neu, was zeitgenössischer Ensemblejazz sein kann – in Berlin zuletzt beim Abschlusskonzert des Jazzfests 2013. In Live-Aufnahmen wie „Without A Net“ oder zuletzt auf dem Dreifachalbum „Emanon“ zeigte er, wie  Komposition und Improvisation, Struktur und Prozess sich die Waage halten.

Kein Stück wird einfach aufgeführt. Jedes Mal geht es darum, einen festgelegten Kern neu zu entziffern und zu umspielen. Schroffheiten wechseln sich ab mit träumerischen Weiten, und auch die zerfasersten Momente werden von einem gemeinsamen Atem im Zaum gehalten. Auch wenn Shorter dabei auf eine über Jahrzehnte erprobte Sprache der Stakkato-Kaskaden, Wirbel und Schnörkel zurückgreift, bleibt diese Musik doch immer beweglich und überraschend. Aber wie anders sollte es bei jemandem sein, der fast ein ganzes Jahrhundert musikalischer Erfahrung in sich trägt?

Wayne Shorter, am 25. August 1933 in Newark, New Jersey, geboren, hatte von den letzten Ausläufern des Swing bis zum Free Jazz so ziemlich jedes Vokabular aufgesogen und seinem Stil anverwandelt. Mit 15 Jahren hörte er bei Lester Young noch, wie gesanglich ein Tenorsaxofon klingen kann. Mit 18 Jahren lauschte er Charlie Parkers Bebop-Girlanden im Birdland. Und mit Mitte 20, die 1950er Jahre neigten sich ihrem Ende zu, begann er nach einem kurzen Engagement mit dem Pianisten Horace Silver mit Sonny Rollins und John Coltrane zu spielen, bevor er bei Art Blakey’s Jazz Messengers einstieg.

Kraftvoll nervös

Schon in diesem Hardbopkontext war Shorter eine Entdeckung. Der Ruhm aber kam erst, als er sich dem einflussreichsten aller Miles-Davis-Quintette anschloss, mit Herbie Hancock am Klavier, Ron Carter am Bass und Tony Williams am Schlagzeug. Dort führte er zusammen mit Miles den modalen Jazz in immer freiere Gefilde. Auf parallelen Soloalben wie „Speak No Evil“ machte er sich mit Standards wie „Infant Eyes“ überdies einen Namen als Komponist. Gegen Ende der 1960er Jahre erreichte er einen Gipfel eines kraftvoll nervösen, hochenergetischen Abstraktionswillens, der doch immer kurz vor der totalen Formzerstörung haltmacht.

Shorters Präsenz war bis ins hohe Alter auf musikalischem Gebiet ungebrochen. Sie lässt sich nur erklären durch eine vernünftige Lebensweise, den freundlichen Gleichmut des Nichiren-Buddhisten, die ihn auch Schicksalsschläge wie den frühen Tod seiner Tochter aus zweiter Ehe und später den Absturz ihrer Mutter beim TWA Flug 800 verwinden ließ.

Im vergangenen September erschien Wayne Shorters letzte Aufnahme: ein Konzert beim Detroit Jazz Festival aus dem Jahr 2017, zusammen mit der Bassistin und Sängerin Esperanza Spalding, der Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington und dem Pianisten Leo Genovese. Mehr oder weniger aus dem Handgelenk geschüttelt, wie der Auftritt war, erreicht er vielleicht nicht die Dichte des Quartetts mit Danilo Perez. Doch sobald Shorter zu spielen beginnt, entsteht etwas von dem Zauber, den man nun nie mehr live erleben wird: Am Mittwoch ist dieser bescheidene Gigant mit 89 Jahren in einem Krankenhaus in Los Angeles gestorben.

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